Special | Europäische Union | 20 Jahre EU-Osterweiterung | Gesundheitswirtschaft
20 Jahre EU-Osterweiterung: Gewinn für die Gesundheitswirtschaft
Zwanzig Jahre nach dem EU-Beitritt von zehn Staaten besteht Grund zur Freude. In der grenzüberschreitenden Gesundheitswirtschaft hat sich viel getan.
Von Walter Liedtke (pressto GmbH)
In unserem exklusiven Special zur EU-Osterweiterung liegt der Fokus auf der Entwicklung der Gesundheitswirtschaft. Aber das ist noch nicht alles! Bis zum Jahresende widmen wir uns jeden Monat einem weiteren EU-Mitgliedsstaat, der in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feiert.
Die Exportinitiative Gesundheitswirtschaft feiert 20 Jahre EU-Osterweiterung mit einem Special und informiert über Auswirkungen und Marktchancen in den damals beigetretenen Ländern
Die Menschen in den Beitrittsländern leben heute länger und ihre medizinische Versorgung ist besser als vor dem Beitritt. Dafür gibt es zwei Gründe: Mehr Wertschöpfung im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ausrichtung der Wirtschaft und die starke Förderung durch die Europäische Union. Das Geld aus den diversen Strukturförderfonds der EU fließt in die Beitrittsstaaten von 2004, weil die EU die Lebensverhältnisse in allen Mitgliedsstaaten angleichen will. Der Fachbegriff dafür ist Kohäsionspolitik. Zuletzt hat die EU als Reaktion auf die Corona-Pandemie den Aufbau- und Resilienzfonds (ARF) aufgelegt. Er verbindet den Wiederaufbau der Wirtschaft nach Corona mit den Zielen des „Green Deal“ der EU.
Mit den Mitteln aus Brüssel wurden in den Beitrittsländern von 2004 zum Beispiel Krankenhäuser gebaut und renoviert oder man hat medizinische Geräte angeschafft. Strukturelle Probleme der nationalen Gesundheitswirtschaften konnte man mit EU-Geld nur lindern, aber nicht beseitigen. Das zeigte sich nicht zuletzt in dem unterschiedlichen Maß, in dem die nationalen Gesundheitssysteme die Corona-Pandemie bewältigten. Heute gibt es in vielen Beitrittsstaaten Programme zur Modernisierung des Gesundheitswesens. Neben dem Fachkräftemangel und der Notwendigkeit der Zentralisierung bzw. Spezialisierung im Gesundheitswesen ist Digital Health das beherrschende Thema. Hier haben die baltischen Staaten zum Beispiel die westlichen EU-Staaten längst überholt.
Chancen für die junge Generation
Junge Menschen aus den 2004 beigetretenen Staaten kennen heute die Zeit vor dem Ende der Sowjetunion und dem Ende des Kommunismus in ihren Ländern nur noch aus Erzählungen. Für sie ist die Reisefreiheit etwas ganz Selbstverständliches wie der unzensierte Zugang zu allen digitalen Informationen. Viele Studentinnen und Studenten haben seit 2004 am EU-Programm „Erasmus“ teilgenommen, das Auslandsaufenthalte während des Studiums ermöglicht. Das ist keine Einbahnstraße.
Durch die Internationalisierung der Universitäten, bei denen heute ganze Studiengänge auf englisch durchgeführt werden, gehen auch Studentinnen und Studenten aus Deutschland zum Beispiel zum Medizinstudium in die Beitrittsländer. Unter jungen Menschen ist die EU-Skepsis generell weniger stark als in anderen Altersgruppen.
Einpendler in das deutsche Gesundheitssystem
Das deutsche Gesundheitssystem profitiert stark vom EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten. So ermöglichen etwa polnische Pflegekräfte vielen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland ein Leben im hohen Alter in der gewohnten Umgebung zu Hause. Aber auch in den Krankenhäusern, den Altenpflegeheimen und den mobilen sozialen Diensten ist Personal aus Osteuropa nicht mehr wegzudenken.
In den deutschen Grenzgebieten zu Polen und zu Tschechien wäre die Gesundheitsversorgung ohne die Einpendler aus den Nachbarländern kaum aufrecht zu erhalten. Wenn es von der Entfernung her machbar ist, bleiben die Beschäftigten jedoch lieber in Polen oder Tschechien wohnen. Denn viele sind sehr heimatverbunden und durch die EU-Mitgliedschaft hat sich die Lebensqualität in ihrer Heimat stark verbessert.
Würdigungen im Großen und im Kleinen
Rund um das Beitrittsdatum am 1. Mai 2004 gab es zahlreiche Veranstaltungen, Reden und Diskussionen, die die positiven Folgen des Beitritts würdigten. Der Deutsche Bundestag setzte eine Debatte zu diesem Thema an. Vizekanzler Robert Habeck sprach bei einer Wirtschaftskonferenz des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft in Berlin mit dem programmatischen Titel „20 Jahre EU-Erweiterung aus Sicht der Deutschen Wirtschaft: Eine Erfolgsgeschichte für die Zukunft“.
Am Dreiländereck zwischen Deutschland, Tschechien und Polen in Zittau gab es am 27. April 2004 ein Europafest. Gastgeber waren der Städteverbund „Kleines Dreieck Bogatynia – Hrádek nad Nisou – Zittau", die deutschen Vertretungen von EU-Kommission und Europäischem Parlament sowie das Land Sachsen. Es wurde sogar eine Geburtstagstorte angeschnitten. An diesem Tag und an diesem Ort war der Gewinn, den die EU-Mitgliedschaft für die Menschen aller EU-Staaten darstellt, sehr anschaulich greifbar. Und auch die Exportinitiative Gesundheitswirtschaft sagt Happy Birthday zur 20-jährigen EU-Mitgliedschaft.
Die Mitgliedschaft im Schengen-Raum haben Polen in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Der deutsch-polnische Handel boomt, auch die Gesundheitswirtschaft profitiert.
Wer sich bei Frankfurt/Oder an die Autobahn stellt und beobachtet, wie viele LKW die Grenze passieren, hat ein klares Indiz dafür, was die offene Grenze bewirkt hat. Vier Jahre nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 trat Polen auch dem Schengen-Raum bei. Seitdem hat der deutsch-polnische Handel stark zugenommen. Seit 2011 gibt es auch für Arbeitnehmer keine Beschränkungen mehr. Davon profitieren beide Seiten – Deutschland und Polen. Im Jahr 2022 arbeiteten etwa 93.000 Beschäftigte aus Polen als Pendler in Deutschland.
„Polen gilt heute als eines der wirtschaftlichen Powerhäuser in Europa“, sagt Christopher Fuß, GTAI-Korrespondent in Warschau: „Die Industrie und das verarbeitete Gewerbe haben sich hier in den vergangenen zehn Jahren deutlich besser entwickelt als in anderen mittelosteuropäischen Staaten.“ Unter den Außenhandelspartnern Deutschlands liegt Polen heute auf Platz 5 – vor Ländern wie Italien oder Österreich.
Erasmus Programm ein voller Erfolg
Durch die Mitgliedschaft in der EU können junge Menschen leicht an ausländischen Universitäten studieren. „Viele Polinnen und Polen haben am Erasmus-Programm teilgenommen und während ihres Studiums ein Auslandsjahr absolviert, um Zusatzqualifikationen aufzubauen. Dieser rege Austausch wäre ohne den EU-Beitritt nicht möglich gewesen“, erläutert GTAI-Korrespondent Fuß. Und die EU fördert Polen auch finanziell. Das merkt man besonders seit dem Regierungswechsel im Dezember 2023.
4,4 Milliarden EU-Mittel für die polnische Gesundheitswirtschaft
Als Reaktion auf die Corona-Pandemie hatte die EU-Kommission den „Aufbau- und Resilienzfonds“ ins Leben gerufen. Mit diesen Mitteln sollen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ausgeglichen und der sogenannte „Green Deal“ in allen Wirtschaftsbereichen vorangetrieben werden. Doch die Mittel wurden wegen der Verstöße der alten polnischen Regierung gegen die EU-Grundsätze in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit lange zurückgehalten. Das hat sich jetzt geändert. Für den April 2024 wurde die Überweisung der ersten Tranche von 6,3 Milliarden Euro der ARF-Mittel an Polen angekündigt. Bis 2027 könnten allein aus diesem Fonds 4,4 Milliarden Euro in die polnische Gesundheitswirtschaft fließen. Sie dienen dem Einkauf neuer medizinischer Geräte für Krankenhäuser und Arztpraxen, dem Ausbau der medizinischen Ausbildungs- und Forschungslandschaft sowie der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Da viele Geräte gerade im Bereich der Spitzentechnologie aus dem Ausland eingekauft werden, eröffnet das auch Exportchancen für deutsche Unternehmen. Doch das polnische Gesundheitssystem leidet unter strukturellen Problemen.
Widerstände gegen Krankenhausreformen
Bereits in den letzten 20 Jahren flossen EU-Fördergelder aus diversen Fonds in das polnische Gesundheitswesen. Kommunale Krankenhäuser konnten dadurch neue Abteilungen bauen und Geräte einkaufen, zum Beispiel Kernspintomografen oder Röntgengeräte.
Doch die Fördermittel können nicht die strukturellen Defizite des polnischen Gesundheitssystems lindern. Die Diagnose von Christopher Fuß ist eindeutig: „Das öffentliche Gesundheitssystem ist unterfinanziert und es gibt viele verschuldete Krankenhäuser. Weil das Land eine so große Fläche zu versorgen hat, verfügt Polen im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl über sehr viele Krankenhäuser.“ Die Widerstände gegen Reformen sind groß: „Polen tut sich sehr schwer mit Krankenhausreformen. Keine kleinere Stadt will ihr Krankenhaus aufgeben. Das sind ja auch wichtige lokale Arbeitgeber.“
Die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems rührt auch daher, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenkasse, die alle Arbeitnehmer in Polen zahlen, relativ niedrig sind und es auch keinen Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung gibt. Christopher Fuß: „In Bezug auf seine öffentlichen Gesundheitsausgaben liegt Polen im europäischen Vergleich im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf einem der untersten Plätze.“
Private Krankenzusatzversicherung als Lohnzusatzleistung
Diese Situation hat dazu geführt, dass sich in Polen ein großer Markt für private Gesundheitsdienstleistungen entwickelt hat. Wer heute eine Arbeit in Polen aufnimmt, erhält in sehr vielen Fällen vom Arbeitgeber eine private Krankenzusatzversicherung als Lohnzusatzleistung auf Gold-, Silber- oder Bronze-Niveau hinzu. Christoper Fuß: „Es gibt private Franchisenehmer von Arztpraxen wie Luxmed oder Medicover. Wer eine private Krankenzusatzversicherung hat, lässt sich in diesen Arztpraxen behandeln.“
Vom Vertriebs- zum Produktionsstandort
Exportorientierte Unternehmen der deutschen Gesundheitswirtschaft und der Pharmaindustrie haben früher in Polen ausschließlich Vertriebsniederlassungen betrieben. Das hat sich geändert. „Bayer macht hier IT-gestützte Arzneimittelentwicklung“, berichtet Christopher Fuß. Der Leverkusener Konzern verwaltet von Warschau aus seine Konzernaktivitäten in Mittelosteuropa. Seit 2021 gibt es auch einen sogenannten „DigiHub“: „Hier arbeiten IT-Spezialisten von Bayer an Software-Lösungen, die bei der Entwicklung von neuen Medikamenten und Therapien helfen sollen. Polen ist damit in Bayers Firmenstrategie vom Vertriebsstandort zum Forschungs- und Entwicklungszentrum aufgestiegen. Das Entwickler-Team in Warschau arbeitet mit Kollegen in Deutschland, USA und anderen Standorten zusammen“, erläutert der GTAI-Experte.
Auch das Unternehmen Fresenius Kobi produziert zum Beispiel in der polnischen Stadt Błonie Infusions- und Transfusionssets oder Sets für die Insulintherapie. Fresenius Kobi beschäftigt in seinem polnischen Werk nach eigenen Angaben etwa 1.700 Menschen.
Durch die Freigabe der ersten Tranche aus den ARF-Fördermitteln gerät Polen unter Zeitdruck. Bis August 2026 müssen die Fördergelder verwendet und die Projekte abgeschlossen sein, die mit diesem Geld finanziert werden. Wie die Unternehmensberatung CRIDO in einer Untersuchung festhält, drohen vor allem die Investitionen im Gesundheitswesen zu scheitern. Das Gesundheitsministerium will medizinische Versorgungszentren modernisieren. Laut CRIDO befinden sich diese Projekte jedoch in einem frühen Stadium und werden möglicherweise nicht bis August 2026 fertig. Dann bliebe Polen auf den Kosten sitzen, sofern das Gesundheitsministerium die Vorhaben überhaupt ausschreibt.
Gute Exportchancen für deutsche Gesundheitswirtschaft
Das trübt die Exportchancen für die deutsche Gesundheitswirtschaft jedoch nicht nachhaltig ein, denn die generellen Rahmenbedingungen sind gut: Mit dem steigenden Wohlstand muss sich Polen mit allen typischen Symptomen einer Wohlstandsgesellschaft auseinandersetzen: Durch eine höhere Lebenserwartung entsteht auch mehr Behandlungsbedarf von alterstypischen Krankheiten. Der private Gesundheitssektor gewinnt weiter an Bedeutung. GTAI-Korrespondent Christopher Fuß: „Bei steigendem Wohlstand sind die Menschen in Polen auch bereit, mehr aus eigener Tasche für ihre Gesundheitsversorgung zu investieren.“ Außerdem ist auch in Polen der Fachkräftemangel inzwischen ein Thema. Deswegen ist es für Unternehmen geradezu eine Notwendigkeit, ihren Beschäftigten die private Zusatzversicherung anzubieten.
Da Polen EU-Mitglied und Teil des Schengen-Raums ist, sind Investitionen deutscher Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in Polen rechtssicher. Die klare Strategie der Regierung besteht in einer besseren Ausstattung von Krankenhäusern und Arztpraxen mit modernen und intelligenten Lösungen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sollen die Ausgaben für das Gesundheitswesen bis 2027 auf 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Das „Investitionsprogramm für die Modernisierung medizinischer Einrichtungen" der polnischen Regierung läuft von 2022 bis 2029 und hat einen Umfang von knapp 7 Milliarden Złoty (1,64 Milliarden Euro).
Hohe Zufriedenheit mit EU-Mitgliedschaft
Die Stärkung des Gesundheitswesens aus Eigenmitteln und durch EU-Förderfonds trägt auch zur allgemeinen Zufriedenheit der polnischen Bürgerinnen und Bürger mit ihrer EU-Mitgliedschaft bei. Im Herbst 2023 gaben 80 Prozent der Befragten in Polen an, sich voll und ganz oder teilweise als Bürger bzw. Bürgerin der Europäischen Union zu fühlen. Damit lag die Selbsteinschätzung der Menschen in Polen über dem Durchschnittswert von 72 Prozent in allen EU-Mitgliedsstaaten.
Zwanzig Jahre nach dem EU-Beitritt orientieren sich die baltischen Staaten in der Gesundheitswirtschaft eng aneinander und setzen dabei doch eigene Schwerpunkte.
Neuer Inhalt (1)
Durch den EU-Beitritt vor 20 Jahren hat die Wirtschaftskraft der baltischen Staaten einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht. Erst kam 2004 der gemeinsame EU-Beitritt, dann der Beitritt zum Schengen-Raum (2008), schließlich die volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer (1. Mai 2011) und als letzter Schritt die Euro-Einführung (Estland 2011, Lettland 2014, Litauen 2015). Überall im medizinischen Bereich wurden EU-Standards eingeführt, so etwa bei der Zulassung von Arzneimitteln.
Mittelfristig gute Exportchancen
"Auch in den baltischen Staaten steigen die Löhne massiv und durch den steigenden Wohlstand werden die Menschen mehr Geld für ihre eigene Gesundheitsversorgung im Privatbereich ausgeben“, sagt GTAI-Korrespondent Niklas Becker, der von Helsinki aus die baltischen Staaten aus deutscher Sicht mit im Blick hat: "Derzeit sind die Haushalte der drei Staaten noch stark damit beschäftigt, die höheren Energiekosten durch den Ukraine-Krieg und die Abkopplung vom russischen Gas zu verkraften.“
Mittelfristig wird sich die Haushaltslage aber wieder verbessern und das wird auch der Gesundheitswirtschaft zugutekommen. Niklas Becker: "Die Bedeutung privater Krankenversicherungen und Gesundheitsdienstleister steigt auch in den baltischen Staaten, ebenso wie die Lebenserwartung, auch wenn sie den EU-Durchschnitt noch nicht erreicht hat.“
Laut Fitch Solutions gelten für alle drei baltischen Länder mittelfristig gute Exportchancen, vor allem innerhalb des Pharmasektors werden die Ausgaben für Generika etwas schneller wachsen als die Ausgaben für patentierte Medikamente. Laut Fitch Solutions liegt das daran, dass die Nachfrage nach innovativen Behandlungen sowohl den Markt für Generika als auch den Markt für patentierte Medikamente unterstützt. Generika werden ihren Marktanteil bis zum Prognosezeitraum 2033 geringfügig erhöhen
Um Geld aus dem Aufbau- und Resilienzfonds der EU nach der Corona-Pandemie zu erhalten, mussten auch die baltischen Staaten Pläne über die Verwendung der Mittel erstellen. Überall fließt Geld, auch in die Gesundheitswirtschaft, vor allem in Investitionen in medizinische Geräte, den Bau von Krankenhäusern und medizinischen Versorgungszentren sowie in die weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens.
Gesundheitswirtschaft in den baltischen Staaten
Die Gesundheitssysteme der baltischen Staaten haben schon in den Jahren zwischen der Unabhängigkeit und dem EU-Beitritt im Jahr 2004 grundlegende strukturelle Reformprozesse von der sozialistischen Planwirtschaft der Sowjetunion zur Marktwirtschaft durchgemacht. Das war mit gewaltigen Kraftanstrengungen verbunden. Heute leiden die Gesundheitssysteme unter chronischem Geldmangel. Die baltischen Staaten suchen den Ausweg im forcierten Einsatz digitaler Versorgungskanäle – mit Erfolg. Estland gilt hier als Vorreiter, aber auch in Lettland und Litauen ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens weit fortgeschritten.
Estland ist laut Bertelsmann Digital Health Index führend im Bereich der digitalen Gesundheit. Das estnische Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk ENHIS, das ausnahmslos alle Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken vernetzt, beinhaltet die gesamte Krankengeschichte aller Bürgerinnen und Bürger. E-Rezept und elektronische Patientenakten sind gesetzlich verpflichtend, Videokonsultationen und Ferndiagnosen sind in die ambulante Versorgung integriert.
Den Neubau und die Modernisierung von Krankenhäusern plant auch Lettland, dessen Gesundheitswirtschaft mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro relativ klein ist. Auch hier kommen europäische Fördermittel zum Einsatz, beispielsweise beim Ausbau des Rigaer Stradins Krankenhauses.
Die Gesundheitssysteme sind im Baltikum ähnlich aufgebaut. In jedem Land entscheidet eine staatliche Institution über die Einkäufe für das öffentliche Gesundheitssystem. Die Krankenhäuser sind zum größten Teil staatlich, die Allgemeinmedizin- und Facharztpraxen werden privat betrieben.
Die Zuzahlung zur gesetzlichen Krankenversicherung ist relativ hoch: In Estland müssen die Menschen etwa ein Viertel der Kosten selbst tragen, in Lettland und Litauen sogar ein Drittel. Estland und Lettland verfügen über deutlich weniger ärztliches und pflegerisches Personal als der Durchschnitt der EU. In Estland sinkt die Zahl der einheimischen Ärzte und Pflegekräfte sogar. Lettland hingegen erhöhte die Ausbildungskapazitäten für Mediziner signifikant und setzte finanzielle Anreize, damit Ärzte einerseits im öffentlichen Sektor tätig bleiben und die Versorgung in ländlichen Regionen übernehmen. Die Zahl der Ärzte in Litauen liegt über dem EU-Schnitt und mit einer Pflegepersonalausstattung auf EU-Niveau kann Litauen sein vergleichsweise aufwändiges Krankenhauswesen noch gut betreiben.
Estland bereitet sich auf den Ernstfall vor
Das Gesundheitssystem in Estland ist zentralisiert. Das Land hat eine einzige Krankenkasse, in der die Bevölkerung versichert ist. Das estnische Gesundheitssystem wird größtenteils über die Lohnsteuer finanziert. Der Estnische Krankenversicherungsfonds (EHIF) ist eine halbautonome öffentliche Einrichtung. Er bündelt den Großteil der öffentlichen Mittel für das Gesundheitswesen und ist für den Einkauf von Gesundheitsdienstleistungen zuständig.
Alle größeren Krankenhäuser in Estland befinden sich in öffentlicher Hand. Sie bieten stationäre Versorgung und den Großteil der ambulanten fachärztlichen Versorgung.
In Estlands Hauptstadt Tallinn wird zurzeit ein neues Krankenhaus gebaut, der Medizinische Campus Nordestland. Aufgrund der Spannungen mit Russland wird beim Bau nun umgeplant: Unterirdisch soll nun eine Etage mit OP-Sälen, Betten und Schutzräumen hinzukommen. Der Bau wird mit insgesamt 280 Millionen Euro aus EU-Mitteln des ARF-Aufbauplans gefördert.
Das Gesundheitsministerium schätzt den Bedarf an Medizintechnik für das Zentralkrankenhaus auf rund 60 Millionen Euro. Darüber hinaus steht – für mehr als 46 Millionen Euro – die Anschaffung von Mehrzweckhubschraubern für medizinische Notfälle im Fokus des Aufbauplans. Mit den ARF-Mitteln soll auch das bereits heute fortschrittliche E-Health-System ausgebaut werden. E-Rezepte, elektronische Patientenakten und ein nationales Gesundheitsportal gehören längst zum Alltag der estnischen Bevölkerung.
Lettland: Weniger Zuzahlungen bei Medikamenten
In Lettland ist das Gesundheitsministerium für die Festlegung der nationalen Gesundheitspolitik und -vorschriften zuständig. Der Nationale Gesundheitsdienst NHS sorgt für die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung in Form einer allgemeinen steuerfinanzierten Gesundheitsversorgung. Der NHS ist für die Umsetzung der vom Gesundheitsministerium entwickelten Vorgaben verantwortlich. Anbieter von Medizintechnik müssen Verträge mit dem NHS abschließen.
Von 2009 bis 2012 führte eine schockartige Reform zu einem dramatischen Rückgang bei der Zahl der Krankenhäuser und zu weitreichenden Veränderungen in den Verwaltungseinrichtungen des Gesundheitswesens. Das Leistungspaket des NHS ist begrenzt. Deshalb müssen Patienten Zuzahlungen für eine Reihe von Dienstleistungen sowie für erstattungsfähige Medikamente leisten. Das soll sich jedoch nun ändern. Lettland hat im Januar 2024 einen Fahrplan für die Umsetzung neuer Gesetze veröffentlicht, durch die mehr Menschen Zugang zu den von ihnen benötigten Arzneimitteln erhalten sollen. Das berichtet die WHO. Dadurch sollen die Ausgaben der Menschen für verschreibungspflichtige Arzneimittel um 15 bis 20 Prozent sinken. Die Erstattung aller erstattungsfähigen Arzneimittel wird deutlich auf mindestens 75 Prozent angehoben. Ziel dieser Reform ist es, den Menschen Zugang zu einer breiteren Palette von Arzneimitteln zu geben, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.
Litauen: Schwerpunkt auf Biotechnologie
Im Zentrum des litauischen Gesundheitssystem steht der Nationale Krankenversicherungsfonds (NHIF). Er kauft im Namen der versicherten Bevölkerung Leistungen ein. Die Einnahmen des NHIF stammen vor allem aus Lohn- und Gehaltsbeiträgen sowie aus staatlichen Transfers für die nicht erwerbstätige Bevölkerung. Die Gemeinden spielen in Litauen eine wichtige Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen, da sie Eigentümer vieler Primärversorgungszentren und kleiner bis mittlerer Krankenhäuser sind. Sie finanzieren und erbringen auch einige öffentliche Gesundheitsdienste. Der Privatsektor beteiligt sich an der Erbringung von Primär- und Zahnbehandlungen und in zunehmendem Maße auch an der öffentlich finanzierten ambulanten Spezialversorgung.
Aktuell kämpft auch Litauen laut Auskunft seiner Botschaft in Deutschland mit einem wachsenden Fachkraftmängel und immer längeren Wartezeiten bei Fachärzten. Anders aber als in Deutschland können die Termine zentral über ein staatliches Portal vereinbart werden. „Beim Krankenpflegepersonal kämpfen wir mit Problemen wie der Ausbildungsqualität und dem Brain-Drain, also der Abwanderung von Fachkräften. Die Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal sind in Skandinavien, Deutschland und anderen Ländern attraktiver, daran müssen wir anschließen,“ heißt es aus der Botschaft. Die litauische Regierung will deshalb für bessere Arbeitsbedingungen, Gehälter und mehr Anerkennung im Gesundheitssektor sorgen
Litauen hat sich eine ehrgeizige nationale Biotechnologie-Strategie gegeben. Die Life Sciences-Industrie soll wachsen. Bis 2030 soll in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen wie der Innovationsagentur und Invest Lithuania ein Anteil von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über den Pharma- und Biotechnologiesektor erreicht werden. Die litauischen Universitäten und Forschungseinrichtungen setzen ihre Schwerpunkte besonders in Bereichen wie Genomik, Proteomik und Biomedizin. Die Regierung fördert die Forschungsprozesse, um innovative Technologien und Fortschritte in den Biowissenschaften zu beschleunigen, erklärt die litauische Botschaft in Deutschland: "Deutsche Unternehmen können von diesem Wissen profitieren und gemeinsame Forschungsprojekte initiieren.“
Im November letzten Jahres kündigte Litauens Präsident Gitanas Nausėda an, dass die „Vilnius Bio City“, das größte Biotechnologiezentrum Europas, gebaut werden soll. Dieser Schritt ist Teil einer Investition in Höhe von 7 Milliarden Euro unter der Leitung der Northway-Gruppe. Sie umfasst 17 Unternehmen aus den Bereichen Medizin, Gesundheitswesen, Biotechnologie, Pharmazeutika und Investitionen und wird von privaten Investoren und Darlehen unterstützt.
Zusammenfassend kann, dass das Baltikum ein interessanter Markt für deutsche Unternehmen ist. Es gibt einen hohen Bedarf an Arzneimitteln. Investoren, die sich vor Ort in den neu erschaffenen Bio Hubs ansiedeln wollen sind sehr willkommen.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Ungarns. Ungarn ist relevant für die Exporte der deutschen Gesundheitswirtschaft. Einige Unternehmen haben dort auch Niederlassungen.
Ungarn liegt nicht nur mitten in Europa und ist Teil der Europäischen Union, sondern das Land ist seit Dezember 2007 auch Mitglied im Schengenraum. Dadurch fallen die Grenzkontrollen zu anderen EU-Staaten weg. Anfang Mai 2011 wurden zudem die letzten Beschränkungen für ungarische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der freien Wahl des Arbeitsplatzes in allen EU-Mitgliedsstaaten aufgehoben.
Aufgrund gravierender Rechtsstaatlichkeitsdefizite wurden in den vergangenen Jahren insgesamt mehr als 30 Milliarden Euro an EU-Mitteln eingefroren. Davon hat die EU erst im Dezember 2023 rund zehn Milliarden Euro freigegeben. Die Folge der ausbleibenden Zahlungen aus Brüssel: Ungarn werden viele Milliarden im Haushalt fehlen. Das dämpft die Erwartungen an staatliche Investitionen. Imzweiten Halbjahr 2024 hat Ungarn turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Dadurch hat das Land für sechs Monate die Chance, größeren Einfluss auf die Agenda der Europäischen Union zu nehmen. Für die EU-Ratspräsidentschaft sind die wichtigsten Themen im Bereich der Gesundheit die Prävention sowie kardiovaskuläre Krankheiten.
Handel trotz Wandel
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich eingetrübt: Die größten Risiken sehen Firmen laut einer Konjunkturumfrage der AHK Ungarn in der schwachen Nachfrage und bei den Arbeitskosten. Aber auch der Fachkräftemangel und die Energiepreise belasten weiterhin. Die Wirtschaftspolitik der ungarischen Regierung ist unberechenbarer geworden und die Rechtssicherheit hat abgenommen. Doch die Handelsbeziehungen erweisen sich als robust. Deutsche Unternehmen erwirtschaften elf Prozent des ungarischen Unternehmens-Bruttoinlandsprodukts. Dale A. Martin, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Siemens Zrt., erläutert im Gespräch mit Germany Trade and Invest: "Heute investieren Unternehmen nicht mehr aufgrund des Lohnniveaus in Ungarn. Man muss das komplexe Geflecht aus EU-Mitgliedschaft, geografischer Nähe zu Deutschland, guter Infrastruktur, gut ausgebildeten und motivierbaren Mitarbeitern, günstigen Unternehmenssteuern und staatlicher Förderpolitik als Ganzes betrachten. Wenn man diese Elemente addiert, ist eine Ansiedlung in Ungarn weiterhin interessant."
Die Finanzierung des Gesundheitswesens ist auch in Ungarn zunehmend ein Problem, berichtet Kirsten Grieß, GTAI-Korrespondentin in Budapest: "Der Anteil öffentlicher Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt hat über die Jahre kontinuierlich abgenommen: 2005 waren es noch 8,0 Prozent, im Jahr 2022 nur noch 6,7 Prozent. Das ist einer der geringsten Werte innerhalb der EU."
Das Gesundheitssystem steht vor einem großen Umbruch
Ungarn verfügt über ein Krankenversicherungssystem mit einer einzigen Krankenkasse. Das Nationale Institut für die Verwaltung des Krankenversicherungsfonds (NEAK) verwaltet den einzigen Krankenversicherungsfonds. Er bietet einen umfassenden Versicherungsschutz. Die Krankenversicherungsbeiträge werden von den Arbeitnehmern (3 Prozent des Einkommens) und von den Arbeitgebern (15 Prozent) erhoben. Die Verwaltung des Gesundheitssystems liegt beim Innenministerium.
Die Kommunen sind für die Organisation der Primärversorgung zuständig. Die Leistungen der Allgemeinmediziner werden überwiegend von privaten Einzelpraxen erbracht. Einige Gemeinden besitzen auch eigene Polikliniken, in denen die lokale Bevölkerung ambulant versorgt wird.
Die Ärzte an öffentlich finanzierten Krankenhäusern werden jedoch relativ schlecht bezahlt, so dass die besten von ihnen in der Privatwirtschaft arbeiten. Das ist nicht das einzige Problem. Kirsten Grieß: "Ein strukturelles Problem sind auch die extrem späten Zahlungen der öffentlichen Einrichtungen für Beschaffungen. Regelmäßig muss die Regierung einspringen und Geld dazuschießen."
Um die Gesundheitsversorgung langfristig stabil aufzustellen, plant die ungarische Regierung deshalb eine Gesundheitsreform, berichtet die GTAI-Korrespondentin: "Erste Priorität hat dabei die Umstrukturierung des Systems, also die Lastenverteilung der Leistungserbringer. Die Verschuldung soll durch einen effizienteren Betrieb reduziert werden." Im November 2024 sollen Details zu der Gesundheitsreform veröffentlicht werden. Bei der Beschaffung möchte man generell, also nicht nur in der Gesundheitswirtschaft, in Zukunft den Anteil ungarischer Lieferanten auf 20 bis 30 Prozent erhöhen. Das soll über spezifische Ausschreibungselemente geschehen.
Deutsche Medizintechnik im Einsatz
Ein gutes Beispiel für ein deutsches Unternehmen, das einen Firmensitz in Ungarn unterhält, ist die B. Braun SE – ein deutsches Pharma- und Medizinbedarfs-Unternehmen mit Sitz im hessischen Melsungen. Die ungarische Niederlassung B. Braun Avitum Ungarn Zrt. bietet in 18 Dialysezentren des Landes Behandlungen für Patienten mit Niereninsuffizienz an. Das Unternehmen versorgt nach eigenen Angaben mit Hilfe von 600 Mitarbeitern und moderner Medizintechnik 2.400 Dialysepatienten. Das entspricht 40 Prozent der Bedürftigen in Ungarn.
Eine interessante Einrichtung vor allem für Anbieter von E-Health-Dienstleistungen ist das ungarische Nationallabor für Gesundheit (https://www.eglab.hu/en/) in Szeged. Seine Aufgabe ist es, die wissenschaftliche Grundlage für eine daten- und analysegestützte Entscheidungsfindung in den Bereichen Gesundheit, Krankheits- und Pandemiebekämpfung in Ungarn zu schaffen. Durch Überwachung, Big-Data-Methoden und Modellierung sollen Lösungen für mehr Resilienz des ungarischen Gesundheitssystems geschaffen werden.
Thermalquellen und Zahntourismus
Der Gesundheitstourismus ist ein relevanter Wirtschaftsfaktor in Ungarn. Dies gilt einerseits für Kommunen, die über Thermalquellen verfügen. Mit etwa 1300 registrierten Thermal- und Heilwasserquellen ist Ungarn das Land mit den weltweit größten und ergiebigsten Vorkommen. Mehr als 300 Quellen werden in den Kurbädern, den Heilbädern und Sanatorien genutzt. Außerdem reisen in jedem Jahr rund 70.000 Patienten wegen einer Zahnbehandlung nach Ungarn. Dadurch sollen sich bis zu 70 Prozent der Kosten im Vergleich zu einer Behandlung in Deutschland einsparen lassen. Viele Menschen aus dem benachbarten Österreich nutzen diese Möglichkeit. Mit einem Anteil von 40 Prozent am Zahntourismus ist Ungarn Europas Spitzenreiter.
"Tschechien ist das erfolgreichste Land unter den mittelosteuropäischen Ländern, die vor 20 Jahren der EU beigetreten sind“, erklärt der Prager GTAI-Korrespondent Gerit Schulze. Das Land liegt im Herzen Europas und es hat wirtschaftlich stark vom EU-Beitritt profitiert. "Das liegt auch daran, dass Tschechien eine lange gemeinsame Grenze mit Deutschland hat, der stärksten Wirtschaftskraft in Europa.“ Den Euro haben die Tschechen bis heute nicht eingeführt, anders als die Nachbarn in der Slowakei. Nur 27 Prozent der Bevölkerung ist für die Einführung des Euro. Die emotionale Bindung an die tschechische Krone ist einfach zu groß. Und auch generell ist die Europaskepsis in Tschechien größer als im Rest der EU. Nur 31 Prozent der Bevölkerung hat eine rundum positive Einstellung zur EU – im EU-Durchschnitt sind dies immerhin 44 Prozent.
Grenzpendler nach Bayern und Sachsen
Viele Menschen pendeln aus Tschechien zur Arbeit nach Deutschland. Die bayerischen Landkreise Tirschenreuth (9,2 Prozent) und Cham (8 Prozent) haben bundesweit den höchsten Anteil an Grenzpendlern. Das Gesundheitssystem in den grenznahen deutschen Regionen würde ohne die Arbeitskräfte aus Tschechien zusammenbrechen. Voraussetzung dafür ist der Beitritt Tschechiens zum Schengenraum Ende 2007: „Die offene Grenze, der Schengenraum, ist sehr wichtig, nicht nur für den Austausch von Waren, sondern auch für das Pendeln von Arbeitskräften.“ Dauerhaft in Deutschland wohnen nicht so viele Tschechen, weil sie doch sehr bodenständig sind und in einem schönen Land mit hoher Lebensqualität leben, so die Einschätzung von Schulze.
Eine Arbeitsmigration gibt es jedoch auch zwischen der Slowakei und Tschechien. So praktizieren zahlreiche slowakische Ärztinnen und Ärzte in Tschechien. Es gibt kaum Sprachprobleme, weil sich die beiden Sprachen stark ähneln. Aber in Tschechien sind die Arbeitsbedingungen für Mediziner deutlich besser.
Organisation des tschechischen Gesundheitssystems
Die Basis des Gesundheitssystems bildet die Bürgerversicherung. Alle Menschen müssen Mitglied in einer der sieben Krankenkassen sein. Bei der Allgemeinen Krankenkasse der Tschechischen Republik (VZP ČR) sind rund zwei Drittel der Bevölkerung versichert. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen dort 4,5 Prozent ein, die Arbeitgeber sind mit neun Prozent dabei. Der Staat finanziert die Krankenversicherung für alle Menschen, die keiner bezahlten Arbeit nachgehen.
Die Krankenkassen kaufen die medizinischen Leistungen dann ein. Das Gesundheitssystem wird zu 82 Prozent mit öffentlichen Geldern finanziert. Die privaten Gesundheitsausgaben liegen bei etwa 18 Prozent für Kostenbeteiligungen bei bestimmten Medikamenten. Doch die Ärzteschaft in Tschechien gilt als stark überaltert. Da auch die tschechische Bevölkerung immer älter wird, ist der Behandlungsbedarf in der Bevölkerung stärker als die Zahl der Medizinerinnen und Mediziner gewachsen. Der demographische Wandel ist auch eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem in Tschechien.
Digitalisierung des Gesundheitswesens
Die tschechische Regierung treibt das Thema „Digital Health“ voran. Das umfasst die digitale medizinische Versorgung, Pflege und Diagnostik, aber auch Online-Arztsprechstunden. Seit der Coronapandemie wurde die telemedizinische Betreuung in Tschechien kräftig ausgebaut. Digitale Rezepte gibt es in Tschechien bereits seit 2018. Man erhält eine SMS, die man dem Apotheker zeigen kann und dann bekommt man das Medikament. Auch Krankschreibungen erfolgen seit Anfang 2020 digital. Man kann sie digital beim Arbeitgeber einreichen. GTAI-Korrespondent Gerit Schulze: "In Tschechien gibt es nicht so große Vorbehalte beim Thema Datenschutz wie in Deutschland. Deshalb ist hier die digitale Patientenakte bereits Standard. Sie fördert den Informationsaustausch zwischen Ärzten, Apotheken und Patienten.“
Deutsche Medizintechnik-Investoren in Tschechien
Zahlreiche deutsche Medizintechnik-Unternehmen haben eigene Werke in Tschechien gebaut und dort Arbeitsplätze geschaffen. Gerresheimer produziert in seinem Werk im westböhmischen Horsovsky Tyn eine große Bandbreite an Drug Delivery-Systemen sowie Diagnostik- und Medizinprodukten. Das reicht von Inhalatoren, Insulinpens und Drogenschnelltests bis hin zu Testkartuschen.
Der Düsseldorfer Spezialanbieter Mölnlycke produziert in Havířov bei Ostrava Materialien zur Wundversorgung. Hartmann-Rico, eine Tochtergesellschaft der ältesten deutschen Verbandstofffabrik Hartmann, produziert in einem Werk in Veverská Bítýska bei Brünn Verbandsmaterial, Bandagen und Babywindeln. Schließlich betreibt auch Lohmann & Rauscher, ein Hersteller von Medizin- und Hygieneprodukten, in Slavkov bei Brünn ein Werk für OP-Sets.
Die deutsche Augenoptik-Branche setzt ebenfalls auf Tschechien als Produktionsstandort. Rodenstock produziert in Klatovy bei Pilsen Brillengläser und Fielmannstellt in diesem Jahr einen neuen Standort für eine große Brillenproduktion samt Logistikzentrum im nordböhmischen Chomutov fertig.
Prognosen
Zur Modernisierung und Erneuerung der Gesundheitseinrichtungen stehen bis 2027 EU-Fördermittel in Höhe von 2 Milliarden Euro zur Verfügung. Die hervorragende Qualität deutscher Medizintechnik gilt noch immer als wichtiges Verkaufsargument. Die Nähe zu Deutschland und die engen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern schaffen die notwendigen positiven Rahmenbedingungen.
Die tschechische Regierung hat im Juni 2024 Änderungen am Gesetz zur öffentlichen Krankenversicherung angekündigt, um die langfristige Finanzierung des Gesundheitssystems sicherzustellen und den weit verbreiteten Medikamentenmangel zu bekämpfen. In den letzten Jahren waren wichtige Arzneimittel wie Blutdruck- und Cholesterinsenker oft knapp. Die neuen Regelungen, die ab Januar 2026 gelten sollen, sehen vor, die Methode zur Festlegung der Höchstpreise für Medikamente zu überarbeiten und höhere Preise für Arzneimittel zuzulassen, die besonders knapp sind. Dieser Schritt könnte sich positiv auf Marktchancen für deutsche Unternehmen auswirken, obwohl Fitch Solutions Inc. die Tschechische Republik bereits jetzt als den attraktivsten Markt in Mittel- und Osteuropa für internationale Pharmaunternehmen einschätzt.
Slowenien trat 2004 der EU und NATO bei, führte 2007 den Euro ein und erreichte zügig 90 % des EU-Wohlstandsniveaus. Eine Gesundheitsreform ist aktuell ein dringendes Thema.
Alle Bürger Sloweniens sind Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die slowenische Krankenversicherungsanstalt (ZZZS) ist der einzige Einkäufer von Dienstleistungen.
Die Sozialausgaben in Slowenien werden aufgrund der Alterung der Bevölkerung in den kommenden Jahren überdurchschnittlich ansteigen. Dies macht beispielsweise eine Reform der Langzeitpflege erforderlich, wie die Bertelsmann Stiftung in einer aktuellen Analyse feststellt. Sie benennt auch die Schwierigkeiten, vor denen die slowenische Regierung steht: „Damit die Reform des Gesundheitswesens gelingt, muss die Regierung eng mit der Opposition zusammenarbeiten und verschiedene potenzielle Veto-Akteure wie Versicherungsgesellschaften, Anbieter von medizinischen Geräten und Medikamenten sowie private Gesundheitsdienstleister überwinden.“
Demonstrationen für die Gesundheitsreform
Anfang 2023 kam es zu öffentlichen Demonstrationen für eine Gesundheitsreform. Die Bürgerinitiative „Die Stimme des Volkes“, die eine zentrale Rolle bei den Massenprotesten gegen die frühere Mitte-Rechts-Regierung spielte, forderte schnelle Lösungen für das kriselnde Gesundheitssystem. Sie verlangte für alle Bürgerinnen und Bürger den Zugang zu Hausärztinnen und Hausärzten, da rund 132.000 Sloweninnen und Slowenen ohne Hausarzt seien. Zudem setzte sich die Initiative für die Abschaffung der Zusatzkrankenversicherung und ein Ende der zunehmenden Privatisierung im Gesundheitswesen ein.
Mangel an Hausärzten
Der Mangel an Hausärzten in Slowenien ist nur ein Teil des Problems. Im gesamten Gesundheitssystem fehlt es an Fachkräften. „Eine einfache Erhöhung der Gehälter und die Schaffung zusätzlicher Studienplätze für Medizin an den beiden medizinischen Fakultäten des Landes werden nicht ausreichen, um den Bedarf der alternden slowenischen Bevölkerung zu decken“, so die Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung.
Beim letzten deutsch-slowenischen Gesundheitsforum in Ljubljana wurden weitere Defizite angesprochen: Dazu zählen die fehlende Digitalisierung und Speicherung von Patientendaten sowie Finanzierungsprobleme. Petra Došenović Bonča von der Wirtschaftsfakultät in Ljubljana wies darauf hin, dass der häufige Wechsel von Gesundheitsministern und Direktoren des öffentlichen Gesundheitsnetzes den Gesundheitssektor in Slowenien stark behindere. Ein Beispiel: Die Gesundheitsreform wurde Anfang 2023 von Gesundheitsminister Danijel Bešič Loredan vorgestellt, der jedoch inzwischen aufgrund von Differenzen mit Ministerpräsident Golob über die Umsetzung der Reform zurückgetreten ist.
Trotzdem wird die Reform schrittweise umgesetzt. Seit Anfang 2024 dürfen private Krankenversicherer in Slowenien keine Zusatzpolicen mehr anbieten; diese Leistungen sind nun Teil der Krankenpflichtversicherung – eine Forderung der Bürgerinitiative „Die Stimme des Volkes“. Bei der Digitalisierung will sich Slowenien Estland als Vorbild nehmen. Weitere Maßnahmen umfassen eine Gehaltsreform im öffentlichen Sektor sowie eine Umstrukturierung der slowenischen Krankenversicherungsanstalt ZZZS.
Europa unterstützt die Reformen finanziell
Im Rahmen seines nationalen Aufbau- und Resilienzplans für 2021 bis 2026 soll Slowenien 1,16 Milliarden Euro an Fördermitteln und 1,04 Milliarden Euro an Krediten aus Brüssel erhalten, was 5,14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Rund die Hälfte der für das Gesundheitswesen vorgesehenen Mittel wird in den Ausbau der Klinik für Infektionskrankheiten in Ljubljana investiert, die andere Hälfte unterstützt die digitale Transformation der Gesundheitsversorgung. Der restliche Betrag soll die Zugänglichkeit des Gesundheitssystems verbessern und das Gesundheitspersonal in der Qualität der Versorgung schulen.
Investitionen in Krankenhäuser
Bereits vor Beginn der Gesundheitsreform wurde im Jahr 2021 von der konservativen Vorgängerregierung ein Gesetz zur Bereitstellung von Mitteln für Investitionen in das slowenische Gesundheitswesen für zehn Jahre bis 2031 in Kraft gesetzt. Das Gesetz sieht unter anderem rund zwei Milliarden Euro für Investitionen in öffentliche Gesundheitseinrichtungen und Bildungseinrichtungen im Bereich des Gesundheitswesens vor. Davon entfallen insgesamt 763 Millionen Euro auf die beiden Universitätsklinikzentren, 557 Millionen Euro auf Allgemeinkrankenhäuser, Pflegekrankenhäuser und Pflegeheime, 214 Millionen Euro auf Spezialkrankenhäuser, 50 Millionen Euro auf psychiatrische Kliniken und 26 Millionen Euro auf Entbindungskliniken.
Abseits der staatlichen Gesundheitsinstitutionen verfügt Sloweniens Wirtschaft über zahlreiche hochspezialisierte Nischenanbieter, zum Beispiel in der Medizintechnik. Kernprodukt des 2010 gegründeten Start-ups MESI Medical ist ein Tablet, das gestützt auf künstliche Intelligenz eine neue Diagnoseform der prädiktiven medizinischen Bewertung ermöglicht. Mitte 2023 investierte der deutsche Gesundheitsfonds SHS Capital 18 Millionen Euro in MESI und übernahm damit die Mehrheit am Unternehmen.
Die Exportinitiative Gesundheitswirtschaft wird von GTAI umgesetzt und unterstützt deutsche Unternehmen der Branche bei der Erschließung ausländischer Märkte.