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Entwicklungsbank geht Extrameile für die Ukraine
Der Krieg in der Ukraine dominiert die Jahrestagung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Sie steht vor gewaltigen Aufgaben.
20.05.2022
Von Constanze González-Schründer | Bonn
"Responding to challenges in a turbulent world" lautet das Motto der EBRD-Jahrestagung, die im Mai 2022 in Marrakesch (Marokko) stattfand. Für die Bank sind die Zeiten besonders turbulent, denn fast alle ihre Einsatzländer sind vom Krieg gegen die Ukraine betroffen. Die Präsidentin der EBRD, Odile Renaud-Basso, spricht von "der härtesten Prüfung" in der Geschichte der Bank. Einerseits müssen Soforthilfen und Wiederaufbaumaßnahmen finanziert werden, andererseits möchte das Institut weiterhin nachhaltige Marktwirtschaften in ihren Partnerländern fördern. Diese sollen außerdem wettbewerbsfähig, gut geführt, grün, inklusiv, widerstandsfähig und integriert sein. Damit das gelingt, muss die Bank flexibel sein.
EBRD-Regionen vom Krieg hart getroffen
Der Angriffskrieg Russlands hat den größten Versorgungsengpass für die Weltwirtschaft seit 50 Jahren verursacht. Preise für Rohstoffe steigen, Lieferketten sind gestört. Am stärksten sind die Auswirkungen in den Einsatzländern der EBRD zu spüren. Während die Ausgaben für Lebensmittel in Deutschland und Frankreich unterhalb des Durchschnitts der EBRD-Regionen liegen, müssen Familien in Nordmazedonien, Serbien und Rumänien jetzt 40 Prozent ihres Einkommens für Essen ausgeben. Die Energiekosten für private Haushalte in Moldawien, Armenien und Rumänien betragen mehr als 25 Prozent.
Ukrainische Regierung soll vitale Infrastruktur aufrechterhalten
In der Ukraine sind 85 Prozent der Unternehmen vom Krieg betroffen. Jeder zweiter Arbeitsplatz geht voraussichtlich verloren. Die Wirtschaftsleistung des Landes wird bis zu 30 Prozent schrumpfen. Im April 2022 wurde die Zahl der Binnenflüchtlinge auf 7,1 Millionen geschätzt. Die Nachbarländer haben bisher 5 Millionen Menschen aufgenommen. Der ukrainische Finanzminister Sergii Marchenko, der aus Kiew zugeschaltet war, sprach von einer "tektonischen Verschiebung, die in der ganzen Welt spürbar ist."
Trotz des Krieges ist die ukrainische Regierung vollumfänglich einsatzfähig. Sie zahlt den Beamten Gehälter und ihren Bürgern Sozialleistungen. Um Flüchtlingsströme aufzufangen und die Bevölkerung zu versorgen, braucht es funktionierende kommunale Strukturen. Hier setzt die Hilfe der EBRD an.
EBRD wird Schlüsselrolle beim Wiederaufbau spielen
Die EBRD ist der größte institutionelle Investor in der Ukraine. In den letzten 30 Jahren unterstützte sie das Land mit knapp 16,5 Milliarden Euro. Mit 510 Projekten hat sie Industrie und Handel gefördert, den Aufbau nachhaltiger Infrastruktur unterstützt sowie den Agrar- und Finanzsektor gestärkt. In Kiew und Czernowitz finanzierte die Bank die Sanierung der Fernwärmesysteme. Auch für den Ausbau der Metro von Charkiw stellte die EBRD Gelder bereit.
Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung hält die Bank eine Schlüsselrolle in der Region inne. Im April 2022 reagierte sie auf den Krieg mit einem 2-Milliarden-Resilienzpaket. Dieses umfasst Soforthilfen und ein Wiederaufbauprogramm für die Zeit nach dem Krieg. Auch die vom Krieg betroffenen Nachbarländer profitieren davon. Die Wirtschaft in der Region soll am Laufen gehalten werden. Dafür investiert die EBRD in vitale Infrastruktur und stärkt den privaten Sektor.
Das passende Instrument, um den Handel aufrechtzuerhalten, ist das Trade Facilitation Programme (TFP). Sein Geschäftsvolumen betrug 3,2 Milliarden Euro im Jahr 2021. Ein wesentlicher Teil floss in die Bewältigung der Covid-19 Pandemie. Nun will die EBRD damit regionale kleine und mittlere Unternehmen (KMU) fördern und globale Ernährungssicherheit ermöglichen.
Der Krieg wird die Aktivitäten der Bank auch die nächsten Jahre prägen. Präsidentin Renaud-Basso bringt die Position der EBRD auf den Punkt: "Wir werden die Extrameile gehen, um der Ukraine zu helfen."
Das Portfolio bleibt grün, chancengleich und digital
Was bedeutet die Priorisierung der Ukraine-Hilfen für die strategische Ausrichtung der Bank? Die EBRD hält an ihren drei Kernthemen fest: ökologische Wende (Green Economy-Transformation), Chancengleichheit und Digitalisierung. Diese Ziele seien "relevanter als je zuvor", so Renaud-Basso. Der Krieg gegen die Ukraine zeigt, wie wichtig der Übergang zur Kohlenstoffneutralität und eine Neubewertung der Energieversorgungssicherheit sind. Bis 2025 will die EBRD als erste multilaterale Bank vollständig am Pariser Klimaabkommen ausgerichtet sein.
EBRD auch im Süden und Osten des Mittelmeers aktiv
Erstmals fand 2022 eine Jahrestagung der EBRD auf dem afrikanischen Kontinent statt. Das Gastgeberland Marokko ist für die Bank von strategischer Bedeutung. Mit Solarenergie und grünem Wasserstoff kann es zur globalen Energieversorgungssicherheit beitragen.
Erfolgsgeschichte Marokko
Seit Beginn ihrer Tätigkeit vor zehn Jahren hat die EBRD 3,3 Milliarden Euro in Marokko investiert. Davon haben fast alle Sektoren profitiert. Luft nach oben hat das Land jedoch beim Thema Chancengleichheit. Frauen, Jugendliche und die ländliche Bevölkerung - das ist der Großteil - sind nicht Teil der Erfolgsgeschichte. Damit sich das ändert, plant die Bank Projekte zur beruflichen Bildung und wirtschaftlichen Inklusion. Das ist glaubhaft, denn bis 2025 sollen 40 Prozent aller Projekte einen Gender-Fokus haben.
Auch Ägypten, Jordanien, Libanon, Tunesien sowie die Palästinensischen Gebiete erhalten Mittel der EBRD. Bisher flossen 15,8 Milliarden Euro in Solarenergie, den Finanzsektor, den Transportsektor oder urbane Infrastruktur.
Beschlüsse des Gouverneursrats
Die 73 Anteilseigner der EBRD tragen den Kurs der Bank mit, Aktivitäten im Kontext des Kriegs gegen die Ukraine zu priorisieren. Um Soforthilfen und den Wiederaufbau zu finanzieren, dürfen Gelder umgewidmet und auf Sonderfonds zugegriffen werden. Die Anteilseigner beschlossen, 1 Milliarde Euro an zusätzlichen Mitteln bereitzustellen. Weniger entschlossen fiel die Entscheidung zur Ausweitung der Aktivitäten auf Subsahara-Afrika und den Irak. Man stimme den Plänen der Bank "grundsätzlich" zu. Was die Umsetzung betrifft, soll der Beschluss nächstes Jahr neu bewertet werden.
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