Wirtschaftsumfeld | Irland | Konjunktur
Konzerne verzerren irisches Bruttoinlandsprodukt
Irlands Bruttoinlandsprodukt beeindruckt mit beachtlichen Wachstumszahlen. Diese sind jedoch verzerrt. Das Statistikamt nutzt alternative Indikatoren.
30.08.2022
Von Marc Lehnfeld | Dublin
Wer Irlands Wirtschaftswachstum betrachtet, gerät ins Staunen. Im Jahr 2021 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der irischen Insel um 13,6 Prozent gewachsen. Damit ist das Land europäischer Spitzenreiter. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern begründet sich diese Wachstumsrate zudem nicht in Nachholeffekten aus dem Krisenjahr 2020. Denn auch im Krisenjahr 2020 wuchs Irland als einziges EU-Land mit einer beneidenswerten BIP-Wachstumsrate von 6,2 Prozent. Was steckt hinter diesen beeindruckenden Zahlen?
Internationale Konzerne verzerren wirtschaftlichen Leitindikator
Irland ist ein dynamischer Wirtschaftsstandort, der seit Jahren eine starke Konjunktur erlebt. Dabei profitiert das Land besonders vom erfolgreichen staatlichen Werben um ausländische Investoren: Laut Irish Times sind die drei größten Unternehmen Irlands infolgedessen Apple Ireland, Google und Microsoft. Die realwirtschaftliche Entwicklung des Landes wird durch diese ausländischen Direktinvestitionen jedoch überstrahlt. Viele interne Kapitalbewegungen durch globale Konzerne verzerren die Wirtschaftsindikatoren.
Möglich machen das aufwändige Steueroptimierungsmodelle, insbesondere das sogenannte Base Erosion and Profit Shifting (BEPS). Dabei transferieren Konzerne ihre Gewinne nach Irland, um sie dort der vergleichsweise niedrigen Körperschaftssteuer von 12,5 Prozent zu unterwerfen.
Ein weiterer Einflussfaktor für das verzerrte irische BIP sind Flugzeugleasinggesellschaften, für die Irland zu den attraktivsten Standorten weltweit zählt. Laut dem irischen Wirtschaftsverband IBEC werden 60 Prozent der global geleasten Flugzeugflotten von der Insel aus verwaltet. Viele dieser Maschinen haben die Landebahn des Dubliner Flughafens nie berührt, stehen aber trotzdem in den Bilanzen der Republik. So landen sie in der amtlichen Statistik. Das beeinflusst auch den deutsch-irischen Warenhandel: Flugzeuge machten im Jahr 2021 mit einem Anteil von rund 16 Prozent am Gesamthandel das wichtigste irische Einfuhrgut aus Deutschland aus.
Wirtschaftsindikator BNE* bereinigt Konzerneffekte
Besonders sichtbar wurden die genannten Effekte im Jahr 2015: Irlands BIP wuchs um rund 25 Prozent. Nicht nur die Irish Times stufte diesen Anstieg als problematisch ein. Der US-Ökonom Paul Krugman prägte am irischen Beispiel den Begriff "Leprechaun Economics", benannt nach dem Koboldwesen der irischen Mythologie. Krugman bezieht sich damit auf genau diese Verzerrung volkswirtschaftlicher Indikatoren eines Landes durch Großkonzerne. In Folge dieses rapiden BIP-Anstiegs entwickelte Irlands Central Statistics Office (CSO) in einer Expertenkommission in den Jahren 2016 und 2017 alternative Wirtschaftsindikatoren, um die realwirtschaftliche Entwicklung besser abzubilden.
Leitindikator für die Entwicklung der irischen Wirtschaft ist seitdem das modifizierte Bruttonationaleinkommen ("Modified Gross National Income"; GNI* bzw. BNE*). Das obige Schaubild zeigt den Berechnungsweg des irischen Statistikamts vom Bruttoinlandsprodukt zum BNE*. Ausgehend vom populären Bruttoinlandsprodukt berechnen die Iren das Bruttonationalprodukt und Bruttonationaleinkommen (BNE). Diese sind ebenfalls gängige, wenngleich weniger bekannte Indikatoren. Vom BNE werden anschließend die verzerrenden Effekte abgezogen, um das BNE* zu erhalten: die konzentrierten Konzerngewinne (von sogenannten redomestizierten Konzernen), Abschreibungen auf F&E-Dienstleistungsimporte und Handel mit geistigem Eigentum sowie Abschreibungen im Flugzeugleasing. Zusammengenommen machten diese Effekte im Jahr 2021 mit 27,7 Prozent einen erheblichen Anteil des irischen BNE aus.
Der Vergleich der Wachstumsraten von BNE* und BIP zeigt, wie erheblich die Verzerrung durch die Aktivitäten der Großkonzerne ist. Das BNE* macht sichtbar, dass die irische Wirtschaft sowohl im Jahr 2015 als auch im Jahr der Coronakrise 2020 geschrumpft ist. Deshalb nutzen nicht nur das irische Statistikamt, sondern auch die Wirtschaftsforschungsinstitute des Landes den modifizierten Leitindikator des BNE*. So entsteht ein klares Bild der realwirtschaftlichen Konjunkturentwicklung Irlands und erlaubt nachvollziehbare Prognosen.
Auch Binnennachfrage modifiziert
Das BNE* ist nicht der einzige alternative Indikator zum BIP. Das irische Statistikamt modifiziert auch die Binnennachfrage, die sich aus dem Staats- und Privatkonsum sowie den Bruttoanlageinvestitionen zusammensetzt. Die Modifikation der Binnennachfrage bezieht sich jedoch ausschließlich auf die Bruttoanlageinvestitionen, weil sie die Investitionen der gewerblichen Wirtschaft abbilden. Diese sind für die Kapitalverschiebungen der Großkonzerne besonders anfällig. Darunter fallen zum Beispiel Transportmittel, Maschinen und geistiges Eigentum. Bei den modifizierten Bruttoanlageinvestitionen werden zum Beispiel die oben genannten Leasingflugzeuge und das geistige Eigentum herausgerechnet.
Auch bei diesem Indikator zeigen die aktuellen Daten des irischen Statistikamts, wie stark die Bereinigung das Bild verändert: Preis- und saisonbereinigt fiel die irische Binnennachfrage im 1. Quartal 2022 im Vergleich zum Vorquartal um 19,5 Prozent. Modifiziert legte sie hingegen um 6,1 Prozent zu. Die Bruttoanlageinvestitionen fielen im gleichen Zeitraum um -45,7 Prozent, legten in der Bereinigung jedoch um 3,1 Prozent zu.