Wirtschaftsumfeld | Ukraine | Krieg in der Ukraine
Angriffskrieg Russlands lähmt Produktion in der Ukraine
Die ukrainische Wirtschaft bricht drastisch ein. Die Produktionsausfälle ziehen globale Folgen nach sich. Umfangreiche internationale Hilfen stützen das Land. (Stand: 26. April 2022)
Von Fabian Nemitz | Bonn
Tod, Flucht, zerstörte Häuser und Infrastruktur - der von Russland am 24. Februar 2022 begonnene Krieg bringt den Menschen in der Ukraine unermessliches Leid. Immens sind auch die wirtschaftlichen Verluste. Laut Schätzungen der Kyiv School of Economics beliefen sich die direkten Schäden an Gebäuden und an der Infrastruktur bis zum 24. März 2022 auf fast 63 Milliarden US-Dollar (US$). Werden indirekte Folgen berücksichtigt, steigen die Verluste auf bis zu 600 Milliarden US$. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine belief sich 2021 auf weniger als 200 Milliarden US$.
BIP-Rückgang von 20 Prozent erwartet
Wegen des Kriegs steht rund ein Drittel der ukrainischen Wirtschaft still, erklärte Finanzminister Serhij Martschenko am 20. März 2022. Viele Unternehmen bemühen sich um einen Umzug in den vom Krieg weniger betroffenen Westen des Landes.
Laut einer Umfrage der European Business Association bereiten den Unternehmen aktuell folgende Punkte die größten Probleme:
- Schwierigkeiten mit der Logistik;
- Probleme mit der Warenversorgung;
- eingefrorene Verträge mit ausländischen und lokalen Kunden;
- geringe Kaufkraft der Bevölkerung;
- beschädigte Einrichtungen, Vermögenswerte, Infrastruktur;
- fehlende finanzielle Mittel und Investitionen;
- Mangel an Rohstoffen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass das BIP im laufenden Jahr real um bis zu 35 Prozent einbricht. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) erwartet einen Rückgang um real 20 Prozent, wenn in den nächsten Monaten ein Waffenstillstand geschlossen wird. Im Jahr 2023 könnte sich die Wirtschaft dann wieder erholen: Dank umfassender Hilfen beim Wiederaufbau erwartet die EBWE im kommenden Jahr beim BIP ein Plus von 23 Prozent.
Landwirtschaft bangt um Ernte
Noch aber halten die Kriegshandlungen unvermindert an. Dies führt auch in der Landwirtschaft zu großen Sorgen, einer Schlüsselbranche der ukrainischen Wirtschaft. In den vergangenen Jahren standen Agrargüter und Nahrungsmittel für rund 45 Prozent der ukrainischen Warenexporte. Bei vielen Produkten zählt die Ukraine zu den führenden Herstellern weltweit, darunter bei Sonnenblumenöl, Weizen und Mais. Viele Länder in Nordafrika und Asien hängen stark von Lebensmittelimporten aus der Ukraine ab.
Der Landwirtschaft bereiten die Blockade der Seehäfen sowie der Mangel an Personal, Treibstoff, Dünger und Finanzmitteln große Probleme.
Am 21. April 2022 gab Premierminister Schmyhal bekannt, dass für die laufende Saison rund 80 Prozent der letztjährigen Aussaatfläche bestellt werden. Bei einer Fortsetzung des Krieges drohen jedoch allein bei Getreide Ernteausfälle von 40 bis 50 Prozent, so der Agrarverband UCAB.
Dies führt zu einer deutlichen Verknappung von Lebensmitteln auf dem Weltmarkt, hohen Preissteigerungen und birgt große Gefahren für die Ernährungssicherheit vor allem in Entwicklungsländern.
Metallindustrie leidet unter Kriegsfolgen
Auch der Bergbau und die Metallindustrie, weitere bedeutsame Devisenbringer der Ukraine, sind stark von den Kriegshandlungen betroffen. Erze, Metalle und Metallwaren stehen für rund ein Viertel der ukrainischen Warenausfuhr. Bei den Kämpfen um die Hafenstadt Mariupol wurden die großen Stahlwerke von Metinvest (Azovstal sowie Illich Steel and Iron Works) zerstört. Laut Generaldirektor Jurij Ryschenkow produzierten die Werke zuvor mehr als ein Drittel des Stahls im Land.
Auswirkungen auf weltweite Lieferketten
Zwar besteht das Gros der ukrainischen Exporte aus Rohwaren und Gütern mit einer geringen zusätzlichen Wertschöpfung. Die Krise zeigt jedoch die große Bedeutung des Landes für globale Lieferketten bei verschiedenen Nischenprodukten. Hierzu zählen Kabelbäume. Weil die Lieferungen aus der Ukraine ausblieben, mussten große deutsche Automobilhersteller ihre Produktion drosseln. Allerdings hat der wichtige Produzent Leoni die Produktion in seinen westukrainischen Werken wieder aufgenommen.
Für weitere Engpässe auf dem Weltmarkt sorgen Produktionsausfälle bei den Firmen Cryoin und Ingas. Beide stehen für bis zu 50 Prozent der weltweiten Produktion von Neon, einem Edelgas, das für die Produktion von Mikrochips benötigt wird.
Spürbar sind die Produktionsausfälle in der Ukraine auch bei Holzwaren sowie in der IT-Industrie. Immer mehr westliche Firmen hatten in den vergangenen Jahren auf IT-Dienstleistungen aus der Ukraine zurückgegriffen.
Land ist auf internationale Hilfe angewiesen
Angesichts wegbrechender Steuereinnahmen, hoher Ausgaben für das Militär und der gewaltigen Schäden an der Infrastruktur ist die Ukraine stark auf die finanzielle Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft angewiesen. Laut Angaben von Premierminister Denys Schmyhal hat die Ukraine bis Ende März 2022 finanzielle Hilfen von mehr als 3 Milliarden US$ erhalten. Verhandlungen über weitere 10 Milliarden US$ laufen. Dank der Unterstützung kann die Ukraine ihren Schuldendienst bislang leisten.
Beim Wiederaufbau nach dem Krieg hofft die Ukraine auf einen neuen Marshallplan. Der EU-Rat kündigte am 24. März 2022 eine Geberkonferenz und die Gründung eines Solidaritätsfonds für die Ukraine an. Die Weltbank gab am 12. April bekannt, das Land mit 1,5 Milliarden US$ zur Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialsystem zu unterstützen. Beim Wiederaufbau könnten auch die bei westlichen Zentralbanken eingefrorenen Währungsreserven der russischen Nationalbank helfen.
Organisation/Staat | Umfang | Anmerkungen |
USA | 13,6 Mrd. US$ | Paket für humanitäre und militärische Hilfen; unterzeichnet von Präsident Joe Biden am 15. März 2022 |
Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) | 2,1 Mrd. Euro | Unterstützungspaket für Unternehmen, Kommunen und Energiesicherheit; Bereitstellung von Handelsfinanzierungen; Bekanntgabe am 9. März 2022; aufgestockt am 27. April 2022 |
Internationaler Währungsfonds (IWF) | 1,4 Mrd. US$ | Soforthilfe (Rapid Financing Instrument); genehmigt vom Exekutivrat am 9. März 2022 |
Europäische Union (EU) | 1,2 Mrd. Euro | Makrofinanzielle Nothilfe; Genehmigung durch EU-Rat am 21. Februar 2022 |
Europäische Union (EU) | 1,5 Mrd. Euro | Militärhilfe; Entscheidung über Aufstockung auf 1,5 Mrd. Euro am 13. April 2022 |
Weltbank | 925 Mio. US$ | Soforthilfen einschließlich finanzieller Mittel mehrerer Einzelstaaten (Niederlande, Schweden, Vereinigtes Königreich, Dänemark, Lettland, Litauen, Island, Japan); weitere Hilfen im Umfang von 3 Mrd. US$ geplant (Stand: März 2022) |
Weltbank | 1,5 Mrd. US$ | Finanzhilfe zur Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen; Bekanntgabe am 12. April 2022 |
Europäische Investitionsbank (EIB) | 668 Mio. Euro | Soforthilfe: Finanzierung von kritischer Infrastruktur, Hilfe beim Wiederaufbau; Genehmigung durch Verwaltungsrat am 4. März 2022 |
Europäische Union (EU) | noch offen | Entscheidung des EU-Rats über Gründung eines Solidaritäts-Treuhandsfonds am 24. März 2022; Ziel: Unterstützung beim Wiederaufbau nach Kriegsende |
Vereinigtes Königreich | 400 Mio. Pfund | Bisherige Hilfszusagen in den Bereichen Wirtschaft, Militär und humanitäre Hilfe |
Italien | 110 Mio. Euro | Finanzielle Unterstützung; unterzeichnet am 27. Februar 2022 |
Ukraine führt Zoll- und Steuererleichterungen ein
Um die Wirtschaft zu unterstützen und die Importe lebenswichtiger Produkte wie Lebensmittel und Treibstoff zu vereinfachen, hat die ukrainische Regierung in den vergangenen Wochen verschiedene Steuer- und Zollleichterungen eingeführt. Die Maßnahmen gelten, solange Kriegsrecht herrscht.