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Britische Autobauer kämpfen um Wettbewerbsvorteile
Wenn im Handelsabkommen mit der EU ab 2024 schärfere Ursprungsregeln für Elektroautos gelten, ist die britische Automobilindustrie bedroht. Die Zeit für eine Lösung wird knapp.
20.06.2023
Von Marc Lehnfeld | London
Die britische Automobilindustrie kämpft um ihren zentralen Wettbewerbsvorteil als Produktionsstandort für den europäischen Absatzmarkt. Rund acht von zehn im Königreich hergestellten Pkw werden exportiert, davon 57 Prozent in die Europäische Union (EU).
Die Folgen des Brexits und die Wende zur Elektromobilität erschweren dieses Geschäftsmodell jetzt massiv. So sorgt die Zollgrenze für zusätzliche Bürokratie. Hinzu kommt das Risiko einer Abweichung von europäischen Standards, zum Beispiel durch die britische Abwendung vom europäischen CE-Kennzeichen. Das größte Risiko entsteht für die britischen Pkw-Produzenten nun aber durch die fehlenden Gigafactory-Projekte im Land und einer Verschärfung der Ursprungsregeln beim britisch-europäischen Elektrofahrzeughandel.
Zu wenig Gigafactories im Königreich
Ein entscheidender Faktor für den Standort ist das Fehlen von Batteriefabriken, sogenannten Gigafactories. Sie bilden den wertschöpfungsmäßigen Kern der Elektrofahrzeuge. Laut den Forschenden des Faraday Institute benötigt die britische Industrie bis 2030 eine jährliche Produktionskapazität von 100 Gigawattstunden Batterien, um den Bedarf der vor der Krise üblichen Menge von 1,6 Millionen produzierten Pkw zu decken. Das entspräche rund fünf Gigafactories.
Bisher hat sich nur Nissan als größter Hersteller im Land zum britischen Batteriestandort bekannt. Eine entsprechende Produktionsanlage des chinesischen Partners Envision AESC befindet sich seit Ende 2022 im Bau. Sie soll 11 Gigawattstunden pro Jahr ab 2024 produzieren und wird das benachbarte Nissan-Werk in Sunderland beliefern. Envision und Nissan investieren damit umgerechnet rund 1,2 Milliarden Euro im Vereinigten Königreich.
Das darüber hinaus am weitesten gediente Projekt, eine Produktionsanlage von Britishvolt mit einer geplanten Kapazität von 300.000 Batterien pro Jahr, wurde Mitte Januar gestoppt, da Britishvolt wegen fehlender finanzieller Mittel Insolvenz anmelden musste. Das Unternehmen konnte zwar vom australischen Investor Recharge Industries gerettet werden, die Übernahme gestaltet sich aber nicht reibungslos.
Ein weiteres Großprojekt, die West Midlands Gigafactory, steht vor dem Aus. Es wurde mit einer möglichen Kapazität von 60 Gigawattstunden pro Jahr beworben. Weder sind Details zur Finanzierung, noch Kunden oder gar Zulieferer für das Projekt bekannt. Tata, der Mutterkonzern von Jaguar Land Rover, prüft nun ein anderes Gigafactory-Projekt in Somerset, das mit einem Standort in Spanien konkurriert. Somerset könnte von der Investment-Zone-Initiative der britischen Regierung profitieren, was Steuererleichterungen, Sonderabschreibungen, Forschungsförderungen und Infrastruktursubventionen umfasst. Dadurch könnte das Investitionsmodell in Somerset attraktiver werden.
Schärfere Ursprungsregeln ab 2024
Zusätzlich wächst der Zeitdruck, denn im nächsten Jahr werden die Ursprungsregeln für Elektrofahrzeuge im britisch-europäischen Freihandelsabkommen strenger. Ab 2024 darf der maximale Anteil von Drittlandswaren, die keinen Ursprung in der EU oder im Vereinigten Königreich haben, in den verbauten Batterien nicht mehr als 40 Prozent des Ex-Works-Preises betragen, im Vergleich zu bisher 70 Prozent. Dies bedeutet, dass der Wert der nicht-ursprungsgemäßen Bestandteile in den Batterien begrenzt wird. Beim Ex-Works-Preis handelt es sich um den Preis des Produkts ab Werk, bevor Transport- und Versicherungskosten hinzugefügt werden. Gleiches gilt für Batteriezellen und -modulen, bei denen die Grenze von 70 Prozent auf 50 Prozent reduziert wird.
Das bedeutet, dass britische Hersteller in Zukunft weniger Batteriekomponenten aus Drittländern verbauen können, wenn die Elektrofahrzeuge zollfrei in die EU exportiert werden sollen. Im letzten Jahr importierte die Insel noch 62 Prozent der Batterien aus Nicht-EU-Staaten, vor allem aus China. Bei Separatoren und Batterieteilen waren es sogar 93 Prozent. Ohne eigene, nationale Gigafactories bliebe nur die Alternative, die Batterien und Komponenten aus der EU zu beziehen. Das wäre allerdings ein extremer Wettbewerbsnachteil der Insel.
2022 (in Millionen Euro) 2) | Marktanteile | |
---|---|---|
Gesamtimporte | 2.048 | 100% |
davon aus der EU | 776 | 37,9% |
davon aus Nicht-EU-Staaten | 1.272 | 62,1% |
bzw. nach den fünf wichtigsten Beschaffungsmärkten: | ||
VR China | 807 | 39,4 % |
Deutschland | 348 | 17,0 % |
Ungarn | 161 | 7,9 % |
Japan | 153 | 7,5 % |
Niederlande | 89 | 4,4 % |
Sorge in Automobilbranche nimmt zu
Deshalb schlagen Branchenunternehmen mittlerweile Alarm. Der Stellantis-Konzern gab noch 2021 bekannt, seine Produktion am britischen Standort Ellesmere Port dank staatlicher Beihilfen aufrechtzuerhalten und auf Elektrotransporter umzurüsten. Nun warnt das Unternehmen vor dem Aus des Standorts, wenn sich die Exportbedingungen in die EU nicht verbessern.
Auch der Verband der deutschen Automobildindustrie (VDA) drängt auf Nachbesserungen im britisch-europäischen Freihandelsabkommen und schlägt vor, die aktuellen Schwellenwerte bis Ende 2026 beizubehalten. Laut Verband fehlen sowohl der EU als auch dem Königreich ausreichende Bezugsquellen von aktivem Kathodenmaterial, einer Schlüsselkomponente in Lithium-Ionen-Batterien.
Eine zügige Einigung innerhalb eines halben Jahres zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission erscheint trotz der verbesserten Beziehungen nach der Einigung auf das Windsor Framework Agreement unrealistisch.