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Argentiniens Bauwirtschaft ist zum Hort der Stabilität geworden
Die Flucht in Sachwerte stützt die Nachfrage nach Ziegeln und Zement. Der Ausbau der Gasversorgung hat höchste Priorität.
09.11.2022
Von Carl Moses | Buenos Aires
Argentiniens Bausektor hat sich in den vergangenen Jahren als ziemlich krisenfest erwiesen. Von dem Einbruch in der Coronapandemie hatte sich das Baugewerbe rascher als andere Branchen erholt. Inzwischen sind die gesamtwirtschaftlichen Bauinvestitionen real fast ein Drittel höher als vor Ausbruch der Coronakrise. Das zeigen saisonbereinigte Daten der Beratungsfirma OJF & Asociados. Im 3. Quartal 2022 lagen sie geschätzt 16,3 Prozent über dem Wert des gleichen Vorjahresquartals. Vor allem die Flucht in Sachwerte durch private Investoren, aber auch öffentliche Bauaufträge haben das starke Branchenwachstum der letzten eineinhalb Jahre angetrieben.
Baukonjunktur kühlt ab
Nun scheint sich die Baukonjunktur allerdings abzukühlen. Seit Jahresmitte 2022 bewegen sich die Branchenindikatoren nur noch seitwärts oder gar fallend. Der vom Nationalen Statistikinstitut Indec ermittelte Indikator für die Bauaktivität (ISAC) ist von Juni bis August saisonbereinigt um 0,5 Prozent eingeknickt, lag im Mittelwert der ersten acht Monate aber noch noch um 6,4 Prozent über dem Vorjahresniveau.
Die regelmäßige Umfrage des Indec zu den kurzfristigen Erwartungen der Bauwirtschaft zeigte im August einen zunehmenden Pessimismus bei Unternehmen, die von privaten Aufträgen leben: Die Zahl der Unternehmen, die Steigerungen der Aktivität erwarten, nimmt ab, und die Zahl derer, die Rückgänge erwarten, steigt. Auch im Hinblick auf öffentliche Bauaufträge ist die Zuversicht geschrumpft.
Der Construya-Index, der den Absatz von zwölf führenden Baumaterialherstellern abbildet und vor allem die private Bauaktivität widerspiegelt, ist saisonbereinigt in den Monaten August (-9,9 Prozent) und September 2022 (-5,5 Prozent) deutlich gesunken. Im Durchschnitt der ersten neun Monate 2022 liegt er aber immer noch 8,5 Prozent über dem entsprechenden Vorjahresniveau, nachdem er im Gesamtjahr 2021 bereits um 27 Prozent zugelegt hatte. Der "leichte Rückgang" erfolge auf einem hohen Niveau, heißt es in einer Mitteilung der Construya-Gruppe. Die Bauaktivität bleibe stabil, Bauvorhaben würden "als sichere Investition und Wertsicherung“ fortgesetzt, erwartet der Unternehmensverbund.
Großvorhaben dynamischer als private Häuslebauer
Der Zementabsatz ging im Oktober 2022 um 1,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat und um 6,7 Prozent gegenüber dem Vormonat zurück. In den ersten zehn Monaten 2022 liegt der Absatz aber um 9,5 Prozent über dem Vorjahr und weiter in der Nähe seines im August 2022 erreichten Rekordniveaus. Dass die Auslieferungen von Schüttgut 2022 (+19 Prozent bis September) deutlich schneller wachsen als der Absatz von Zement in Säcken (+6 Prozent) zeigt, dass größere gewerbliche Bauvorhaben sich zuletzt dynamischer entwickeln als private Neu- und Umbauten.
Die öffentlichen Kassen sind leer und unterliegen einem Sparkurs, den der neue Wirtschaftsminister Sergio Massa seit August 2022 forciert. Ein Rückgang des Asphaltabsatzes in den Monaten Juli und August 2022 um rund 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bestätigt die Abschwächung der öffentlichen Bautätigkeit ab Jahresmitte 2022.
Eile beim Bau einer Gaspipeline
Mit hoher Priorität vorangetrieben wird jedoch der Bau der Gasleitung Néstor Kirchner von dem Fördergebiet Vaca Muerta nach Buenos Aires. Der Auftrag für die erste Etappe mit 583 Kilometern Länge von der Ortschaft Tratayén (Provinz Neuquén) bis Salliqueló in der Provinz Buenos Aires ging praktisch konkurrenzlos an den argentinischen Techint-Konzern, da sich offenbar kein anderer Bewerber in der Lage sah, den von der Regierung vorgegebenen engen Zeitplan einzuhalten.
Die Pipeline, deren Kosten mit etwa 1,5 Milliarden US-Dollar (US$) veranschlagt sind, soll bis zum argentinischen Winter im Juni 2023 fertiggestellt sein und jährliche Einsparungen von mehr als 2 Milliarden US$ bei den bisher erforderlichen Gasimporten ermöglichen. In der zweiten Etappe soll die Leitung bis nach San Jerónimo in der Provinz Santa Fé verlängert werden.
Der Ausbau der Öl- und Gasindustrie und der dazugehörigen Infrastruktur dürfte auch in den kommenden Jahren im Mittelpunkt der öffentlichen und privaten Bautätigkeit stehen. Angesichts seiner großen Schiefergas- und -ölreserven könnte Argentinien bei einer hinreichenden Ausweitung der Investitionen in einigen Jahren ein ähnlich bedeutender Exporteur von Frackinggas und -öl werden wie die Vereinigten Staaten.
Flucht in Sachwerte hält an
Im privaten Wohnungs- und Gewerbebau bleibt die Flucht in Sachwerte vor der galoppierenden Inflation (2022 etwa 100 Prozent) eine bedeutende Tendenz. Da Unternehmen kaum Gewinne ins Ausland überweisen dürfen, und auch der Zugang zu Devisen für Importe immer stärker beschränkt wird, bieten sich Investitionen in Büro- und Industriegebäude oder Logistikinfrastruktur als Ausweichmöglichkeit an.
Rückenwind hat der Fremdenverkehr und der Ausbau der entsprechenden Infrastruktur. Aufgrund der Devisenbewirtschaftung sind Auslandsreisen für viele Argentinier kaum noch erschwinglich. Stattdessen blüht der inländische Tourismus. Auch der Einreisetourismus aus dem Ausland floriert, zumal ausländische Touristen aufgrund des schwachen Pesos in Argentinien günstig Urlaub machen können.
Finanzierung durch bi- und multilaterale Kreditgeber
Die Finanzierung von Bauprojekten ist schwierig. Argentiniens Länderrisiko ist mit einem Aufschlag von rund 26 Prozentpunkten in den Renditen argentinischer Staatsanleihen im Vergleich zu US-amerikanischen Staatstiteln prohibitiv hoch. Die beschränkten Mittel argentinischer Banken werden zum großen Teil vom Staat absorbiert. Private Kredite stehen dagegen kaum zur Verfügung. Das Volumen der inländischen Kredite an den Privatsektor liegt mit knapp 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf einem Tiefstand. Nach dem Abschluss eines neuen Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im März 2022 und der Restrukturierung der Rückstände gegenüber dem Pariser Club sind immerhin bi- und multilaterale Finanzierungen durch offizielle Geber möglich.