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Argentiniens Angebot an eine Welt in der Zeitenwende
Das Pampaland kann zu einem wichtigen Rohstoff- und Energielieferanten für Europa werden. Doch erst gilt es, die Wirtschaft zu stabilisieren und eigene Engpässe zu überwinden.
01.07.2022
Von Carl Moses | Buenos Aires
Selten waren die Diskrepanzen zwischen der aktuellen Lage und den kurz-, mittel- oder langfristigen Perspektiven der Wirtschaft in Argentinien so ausgeprägt wie zurzeit. Während im bisherigen Jahresverlauf 2022 die Geschäfte bei vielen Unternehmen brummen, sind die Aussichten für die kommenden Monate - und erst recht für das Wahljahr 2023 - von enormer Unsicherheit geprägt. Auf lange Sicht tun sich dagegen attraktive neue Chancen auf, die Anlass zu verhaltenem Optimismus - und in einigen Branchen gar zu Euphorie geben.
Großes Potenzial für grünen Wasserstoff
Das gilt besonders für den Bereich der erneuerbaren Energien, wo sich für Argentinien mit dem grünen Wasserstoff ein völlig neues Geschäftsfeld eröffnen könnte. Zwar wird das Land bei der Produktion und dem Export des Energieträgers vielleicht nicht zu den Vorreitern in Südamerika gehören. Doch kann es kaum einen Zweifel geben, dass Argentinien - wenn der globale Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft so wie vor allem in Deutschland geplant und erhofft in Schwung kommt - früher oder später zu einem wichtigen Player auf diesem Markt werden wird.
Staatssekretärin Brantner sieht "strategische Priorität"
Das Potenzial Südamerikas für grünen Wasserstoff war auch der Hauptgrund für den Besuch der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Franziska Brantner, Mitte Juni 2022 in Argentinien, Chile und Uruguay. “Wir haben bei Russland und dem Gas eine harte Lektion gelernt, dass wir nie wieder von einer einzigen Quelle für Energie abhängig sein wollen”, sagte Brantner im Gespräch mit GTAI. Bei der Diversifizierung komme Südamerika ins Spiel. “Südamerika ist eine strategische Priorität für uns.”
Auf beiden Seiten der Anden ging es bei Brantners Besuch zudem um die großen Vorkommen von Lithium, einem strategischen Rohstoff für die Elektromobilität. Die größten Produktionszuwächse bei dem Ultraleichtmetall sind in den kommenden Jahren in Argentinien zu erwarten. Nach Schätzungen des Deutsche Bank Research könnte sich der Anteil des Landes am Weltmarkt bis 2030 auf 17 Prozent nahezu verdreifachen. Fast zwei Dutzend Lithiumprojekte mit insgesamt 6,5 Milliarden US-Dollar Investitionen sind in Bau oder in der Pipeline.
Vom Nettoimporteur zum Energielieferanten?
Zu Besuch in Europa pries der argentinische Präsident Alberto Fernández sein Land kürzlich als Lieferant von Nahrungsmitteln und Energie, die durch Russlands Krieg gegen die Ukraine knapp zu werden drohen und deren Preise jetzt schon explodieren. Allerdings muss Argentinien zunächst die notwendige Infrastruktur im eigenen Land schaffen, um seine enormen Schieferöl- und -gasreserven fördern, verarbeiten und exportieren zu können. Die lange Verzögerung des Baus einer neuen Gaspipeline von der Öl- und Gaslagerstätte Vaca Muerta nach Buenos Aires ist da nicht sehr ermutigend. Bisher ist das Land selbst auf Energieimporte angewiesen, für deren Bezahlung in den kommenden Monaten die Devisen knapp werden könnten.
Auch die Weizenernte der nächsten Anbauperiode droht niedrig auszufallen, unter anderem weil die Regierung die Landwirte durch Exportbeschränkungen und Pläne für höhere Steuern verunsichert. Der langfristige Wachstumstrend der argentinischen Agrarproduktion, die jetzt schon das Zehnfache der eigenen Bevölkerung ernähren kann, dürfte dennoch intakt bleiben.
Flucht aus dem Peso treibt die Konjunktur
Kurzfristig überwiegen in Argentinien aber die Unsicherheiten. Die eingangs erwähnten Diskrepanzen spiegeln sich auch in einigen scheinbar widersprüchlichen Konjunkturindikatoren. Obwohl das Vertrauen der Konsumenten laut der monatlichen Umfrage der Universität UTDT in der Nähe langfristiger Tiefstände dümpelt, konsumieren diejenigen Argentinier, die es sich noch leisten können, als gäbe es kein Morgen. Die Restaurants von Buenos Aires sind voll, die letzte Feriensaison brach alle Rekorde.
Trotz knapper Devisenreserven der Zentralbank erreichten die Warenimporte zuletzt ein neues Rekordniveau. Und trotz des allenthalben als schlecht bezeichneten Investitionsklimas lagen die Investitionen in den ersten vier Monaten 2022 um 15 Prozent über dem Vorjahr, nachdem sie schon 2021 um 23 Prozent gestiegen waren.
Hauptgrund für die Ausgabefreudigkeit ist die Flucht aus dem Peso. Bevor Abwertung und Inflation den Wert des Peso auffressen, gönnen sich die Verbraucher lieber etwas, die Unternehmen stocken Lager auf oder kaufen Ausrüstungen. Nachhaltig ist ein solcher Aufschwung freilich nicht. Für das 2. Halbjahr wird eine deutliche Abkühlung der Konjunktur erwartet.
Die größten Risiken sind hausgemacht
Zu den Risiken und Unwägbarkeiten des globalen Szenarios kommen in Argentinien große hausgemachte Unsicherheitsfaktoren hinzu. Die für Oktober 2023 angesetzten Wahlen werfen ihren Schatten weit voraus und lassen die politischen Spekulationen und Positionierungskämpfe schon jetzt heiß laufen. Das im März 2022 geschlossene Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat nur vorübergehend zu einer Beruhigung der Märkte geführt. Die Risikoaufschläge für argentinische Staatsanleihen sind höher als vor Abschluss des IWF-Abkommens. Nachdem die Regierung nie Zugang zu ausländischen Krediten fand, hat sie nun auch zunehmende Schwierigkeiten, sich in lokaler Währung zu verschulden. Die darum notwendige Finanzierung des Staatsdefizits durch Überweisungen der Zentralbank hat die Inflation auf mehr als 60 Prozent getrieben.
Trotz rekordhoher Exporterlöse verharren die Devisenreserven auf niedrigem Niveau. Es fehlt nicht an Devisen, es fehlt am nötigen Vertrauen, um die Kapitalflucht zu stoppen. Die Knappheit von Devisen zum offiziellen Wechselkurs wird sich den Prognosen vieler Experten zufolge im 2. Halbjahr verschärfen. Sollte dies zu Lasten der Importe gehen, würde automatisch auch die Wirtschaftsaktivität darunter leiden. Denn 85 Prozent der argentinischen Warenimporte entfallen auf Rohstoffe, Vor- und Zwischenprodukte sowie Maschinen und Ausrüstungen für die heimische Produktion.