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Israels Wirtschaft atmet auf - Verfassungskrise schwelt weiter
Israels geplante Justizreform hat das Land erschüttert. Jetzt setzte die Regierung das Vorhaben aus. Wie es weitergeht, ist noch unklar. Auch wirtschaftlich bleiben Unsicherheiten.
28.03.2023
Von Wladimir Struminski | Jerusalem
Am 27. März 2022 gab Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bekannt, die von seiner Regierung eingeleitete umstrittene Justizreform mindestens für einen Monat aufzuschieben. Ein großer Teil der Bevölkerung im Land vernahm die Nachricht von der Verschiebung mit Erleichterung. Auch die Wirtschaft des Landes atmet auf.
Anfang Januar 2023 hatte die Regierung eine weitreichende Veränderung der Gewaltenteilung im Staat verkündet. Das Vorhaben stürzte Israel in eine tiefe Krise, die auch die ökonomischen Perspektiven eintrübte.
Die nunmehr beschlossene Pause im Gesetzgebungsverfahren der Reform gilt als ein Hoffnungsschimmer. Sie bietet den Parteien die Chance, eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Reform sieht Änderungen bei der Gewaltenteilung vor
Die geplante Reform hat zwei Hauptziele. Zum einen sollen Regierung und Parlament (Knesset) gegenüber dem Obersten Gericht gestärkt werden und die Regierung will künftig über die Wahl der Richter des Obersten Gerichts allein entscheiden.
Bislang werden die Richter von einem Komitee ernannt, das sich aus Richtern, Politikern und Mitgliedern der Anwaltskammer zusammensetzt. Das Oberste Gericht kann Gesetze für null und nichtig erklären, die den sogenannten Grundgesetzen widersprechen. Diese Kontrollbefugnis hält die gegenwärtige Regierung für übertrieben und undemokratisch. Israel hat keine offizielle Verfassung, jedoch haben die Grundgesetze in der Praxis einen verfassungsähnlichen Rang.
Der Reformplan sieht vor, dass das Parlament ein vom Obersten Gericht zuvor für grundgesetzwidrig erklärtes Gesetz wieder in Kraft treten lassen kann. Mithilfe einer einfachen Mehrheit von 61 ihrer 120 Mitglieder könnte die Knesset jedes betreffende Gesetz bei einer zweiten Abstimmung endgültig verabschieden.
Kritiker bangen um die demokratische Grundordnung
Das und der entscheidende Einfluss der Regierungskoalition bei der Ernennung von Richtern würde die Unabhängigkeit der Justiz erheblich schwächen, befürchten Gegner der Neuregelung. Durch die Reform drohe eine Aushöhlung der demokratischen Grundordnung des Landes. Diese Befürchtung führte zu landesweiten Protesten von Bürgern. Hunderttausende Israelis, von links bis rechtsliberal, gingen seit Anfang Januar 2023 Woche für Woche auf die Straße.
Wirtschaftsexperten warnen vor Vertrauensverlust
Auch in der israelischen Wirtschaft blieb die Krise nicht ohne Folgen. Führende Wirtschaftsexperten warnten vor einem Vertrauensverlust ausländischer Investoren in die staatlichen Institutionen und vor Einbußen in der Wirtschaftsleistung. Viele Vertreter des Hightech-Sektors, der in besonderem Maße auf ausländisches Kapital angewiesen ist, schlossen sich den Protesten an. Die Kritik an der Reform weitete sich auch auf andere Wirtschaftsbranchen aus.
Medien berichteten über die Zurückhaltung ausländischer Investoren und einen beginnenden Abfluss von Inlandskapital ins Ausland. Die Manufacturers Association of Israel warnte, israelische Firmen erwögen, Produktionskapazitäten ins Ausland zu verlegen. Zum Schluss kündigte der Gewerkschaftsbund Histadrut einen Generalstreik gegen die Reform an.
Unter diesen Umständen gab die Regierung nach. Sie verkündete, mit der Opposition über die Justizreform verhandeln zu wollen, ohne zugleich den bisherigen Gesetzesentwurf im Parlament voranzubringen. Verhandlungen während eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens hatte die Opposition als unfair abgelehnt.
Zweifel an der Stabilität könnten den Standort belasten
Der unmittelbare Schaden für die Wirtschaft ist bislang begrenzt. Als ein Indiz kann der Wechselkurs des Neuen Schekels dienen. Am Tag vor der verkündeten Verschiebung des Gesetzesentwurfs (auf dem Höhepunkt der Krise) lag der Wert der israelischen Währung gegenüber dem US-Dollar nur 2,8 Prozent unter dem Stand von Anfang Januar 2023. Gegenüber dem Euro betrug die Abwertung 4,8 Prozent. Auch die Börse blieb insgesamt ruhig. Der führende Aktienindex, TASE 35, gab seit Anfang Januar insgesamt um rund 1 Prozent nach.
Die Rahmenbedingungen für die Konjunktur bleiben positiv. Vor der Krise prognostizierte die Zentralbank ein reales Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent für 2023 und von 3,5 Prozent für 2024. Die Exporte von Hightech-Dienstleistungen und -Waren sind ein wichtiger Gradmesser für die internationale Stärke der israelischen Wirtschaft. Sie setzten 2022 ihren Expansionskurs fort und stiegen in laufenden Dollarpreisen um 11,3 Prozent.
Allerdings löste die Krise Zweifel an der Stabilität von Israels Regierungssystem, Gesellschaft und Wirtschaft aus. Israelische Wirtschaftsexperten betonen, dass diese Zweifel sich mit der Verschiebung des Gesetzgebungsverfahrens nicht aufgelöst haben.
Konfliktpotenzial besteht weiter
In den kommenden Wochen werden die einheimische Wirtschaft und Israels ausländische Geschäftspartner die Auseinandersetzung um die Umgestaltung der Justiz genau beobachten. Einen möglichen Verhandlungsrahmen hat Staatspräsident Jitzchak Herzog bereits vorgelegt.
Die Opposition widersetzt sich zwar nicht prinzipiell Änderungen im Justizwesen, will aber bei den Grundätzen der liberalen Demokratie inklusive der starken Stellung des Obersten Gerichts keine Kompromisse eingehen. Deshalb besteht weiterhin ein hohes Konfliktpotenzial.
Auch die tiefe Spaltung der Gesellschaft, die sich in der Krise in extremer Form offenbart hat, bleibt weiter bestehen. Ob und wie Israels Politiker das Land wieder in ruhigere Gewässer steuern können, wird die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes grundlegend beeinflussen.