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Achillesferse Stromnetz
Der Energiesektor ist in Polen der größte Produzent von Treibhausgasen. Als Reaktion investiert das Land in erneuerbare Energien. Doch die Stromnetze sind darauf nicht vorbereitet.
22.03.2022
Von Christopher Fuß | Warschau
Um Strom ins Netz einspeisen zu können, müssen Energieerzeuger in Polen einen Antrag bei ihrem Verteilnetzbetreiber (VNB) stellen. Immer häufiger lehnen die VNB den Netzanschluss ab. Betroffen sind insbesondere Fotovoltaikanlagen.
Wie der Wirtschaftsverband Konfederacja Lewiatan vorrechnet, ist die Zahl abgelehnter Anträge zwischen 2018 und 2020 um mehr als das Fünffache gestiegen. Der VNB TAURON hat 2021 laut Medienberichten auf 25 Prozent aller Anträge mit einem negativen Bescheid reagiert.
Erneuerbare Energien Opfer ihres Erfolges
Über die Ursachen sind sich Experten einig. Unter anderem bringt die rasant wachsende Fotovoltaik das Netz an seine Grenzen. Allein im Jahr 2021 stieg die installierte Leistung laut polnischer Energieagentur (Agencja Rynku Energii, ARE) um 93,6 Prozent. Wachstumstreiber sind Kleinstanlagen auf Hausdächern und Firmengebäuden.
Polens Leitungen sind darauf ausgelegt, Strom aus wenigen Großkraftwerken zu transportieren. Wenn viele kleine Anlagen dezentral Strom einspeisen, treten Probleme auf. Die Leitungen werden zu stark belastet. Der Leiter des Energieausschusses im polnischen Parlament, Marek Suski, warnt: "Mancherorts haben wir Mittel- oder sogar Hochspannung im Niederspannungsnetz. Es kommt zu sehr großen Schäden."
Dadurch schwinden die Möglichkeiten, größere Kraftwerke wie Solarparks oder Windräder anzuschließen. "Mancherorts ist das Netz nicht mehr in der Lage, große Erzeugungsquellen aufzunehmen. Alle VNB in Polen haben Probleme", erklärte Robert Zasina, Vorstandsvorsitzender bei TAURON Dystrybucja.
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Der polnische Anlagenplaner Vortex Energy nannte der Nachrichtenseite Business Insider einen weiteren Grund für die Ablehnungen: Die VNB würden Netzkapazitäten für geplante Offshore-Windkraftanlagen reservieren. Polens Offshore-Gesetz verbietet den Anschluss neuer Kraftwerke, wenn dadurch der Anschluss von Offshore-Windparks gefährdet wird.
Netz am Limit
Tatsächlich gilt das Stromnetz schon länger als modernisierungsbedürftig. Eine Untersuchung des polnischen Rechnungshofes von 2017 ergab, dass 43 Prozent aller Hochspannungsleitungen älter als 40 Jahre sind. Der Leiter des Thinktanks Klub Jagielloński, Marcin Roszkowski, erklärt in der Dziennik Gazeta Prawna, die Energiekonzerne hätten das Netz als Einnahmequelle genutzt, ohne zu investieren.
Störfälle sind keine Ausnahme. Fast 119 Minuten lang waren Endabnehmer in Polen 2020 durchschnittlich ohne Strom. Für Deutschland lag der Wert bei rund 11 Minuten. Im regionalen Vergleich ist laut Weltbank nur Ungarns Netz anfälliger. Die Situation in Polen hat sich zwar gebessert. Weil die meisten Leitungen oberirdisch liegen, sorgen Stürme aber regelmäßig für Probleme.
Ohne Investitionen könnte der Ausbau erneuerbarer Energien (EE) ins Stocken geraten. Bis 2030 will Polen den Anteil regenerativer Quellen an der Stromproduktion von 17 Prozent auf 32 Prozent erhöhen. Viele Kapazitäten entstehen auch in Zukunft dezentral. Ein Beispiel ist die Logistikbranche. Bartłomiej Hofman, Geschäftsführer beim Lagerhallenspezialisten P3 Logistic Parks Poland, erklärte in der Tageszeitung Rzeczpospolita: "Ich denke, dass in zwei Jahren auf jedem neu gebauten Lagerhaus Fotovoltaik installiert sein wird."
Verbände, Energieerzeuger und stromintensive Branchen fordern, Kraftwerke direkt mit Produktionswerken zu verbinden. In der Regel müssen Betreiber von EE-Anlagen ihren Strom ins Netz einspeisen. Polens Energiebehörde (Urząd Regulacji Energetyki, URE) sperrt sich gegen direkte Leitungen zwischen Kraftwerk und Fabrik.
Ohne Subventionen geht es nicht
Gleichzeitig stagnieren die Investitionen der VNB in Polen. Einige Betreiber haben ihre Ausgaben im Zuge der Pandemie sogar reduziert. Der Netzverband Polskie Towarzystwo Przesyłu i Rozdziału Energii Elektrycznej (PTPiREE) merkt an, dass ohne staatliche oder europäische Förderprogramme die nötigen Ausgaben kaum zu stemmen sind. Der VNB Energa Operator fordert, bürokratische Hürden abzubauen. Modernisierungsprojekte würden drei bis fünf Jahre dauern.
Aus dem europäischen Wiederaufbaufonds hat Polen 300 Millionen Euro für Investitionen in das Leitungsnetz eingeplant. Die Europäische Kommission will die Gelder aber nicht auszahlen, weil sie die Rechtsstaatlichkeit in Polen bedroht sieht. Polens Regierung hat in den vergangenen Jahren kontroverse Änderungen im Justizwesen vorgenommen. Weitere Gelder stellt der europäische Modernisierungsfonds zur Verfügung.
Immerhin: der staatliche Übertragungsnetzbetreiber Polskie Sieci Elektroenergetyczne (PSE) will bis 2030 fast 3.600 Kilometer neue Leitungen verlegen. Weitere 1.600 Kilometer werden modernisiert, ebenso wie 44 Umspannwerke. Besonders in der Woiwodschaft Pomorskie investiert PSE. Leitungen aus den geplanten Offshore-Windparks gehen hier an Land.
Förderung für Energiespeicher
Um die Netze zu schonen, reduziert Polen die Förderung für Fotovoltaik. Privatpersonen, die Paneele auf Hausdächern installieren, erhalten in Zukunft geringere Zuschüsse. Auch die Einspeisevergütung fällt bald kleiner aus. Ein diskutiertes Gesetz sieht vor, dass weniger Flächen für große Solarfarmen genutzt werden können.
Im Gegenzug verspricht Polen Subventionen für den Einsatz von Energiespeichern in Privathaushalten. Laut Experten könne damit das Netz stabilisiert werden. Außerdem will Polen regionale Erzeugergemeinschaften, sogenannte Cluster, mit Steuererleichterungen fördern.
Wenn die VNB mehr Geld für den Netzausbau in die Hand nehmen, könnten auch deutsche Anbieter profitieren. Die Absatzchancen sollten steigen, wenn europäische Gelder zur Verfügung stehen. Ein modernes und dezentrales Netz benötigt unter anderem hochwertige Leitungen, Transformatoren, intelligente Zähler und Steuerungstechnik.
Allerdings geht der Krieg in der Ukraine an der Branche nicht spurlos vorbei. Wichtig für den Netzausbau sind Metalle. Russland, Belarus und die Ukraine gehören zu den wichtigsten Lieferanten. Die Preise an der Londoner Metallbörse steigen. Damit wird der Netzausbau teurer.