Markets International 6/24 I Dienstleistungen I Interview
"Es gibt keine Zollschranken im Internet"
Zollexperte Achim Rogmann erklärt, warum elektronisch übertragene Leistungen ein begünstigter Sonderfall im Welthandel sind - und warum sich an der Rechtslage bis auf Weiteres wenig ändern dürfte.
27.11.2024
Von Karl Martin Fischer | Bonn
Achim Rogmann ist Professor für Öffentliches Wirtschaftsrecht und Europarecht an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel. | © Brunswick European Law School (BELS)
Im Welthandelsrecht gelten für Waren und Dienstleistungen unterschiedliche Regeln. Deshalb zuerst die Frage: Was genau ist zollrechtlich eigentlich eine Ware?
Obwohl sich der Unionszollkodex (UZK) in seinem Anwendungsbereich in Art. 1 Abs. 1 auf die in das und aus dem Zollgebiet der Union verbrachten Waren beschränkt, lässt sich im Zollrecht der EU an keiner Stelle eine Legaldefinition des Warenbegriffs finden. Ursache dafür ist, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf eine Definition dieses für das Zollrecht zentralen Begriffs einigen konnten. Auch auf nationaler Ebene begrenzt § 1 ZollVG die Aufgaben der (deutschen) Zollverwaltung auf die Überwachung des Verkehrs mit Waren über die Außengrenze der EU und überlässt die Definition einer Dienstvorschrift, die naturgemäß keine EU-weit verbindliche Auslegung liefern kann.
Somit musste die Rechtsprechung eine Definition liefern. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH sind Waren körperliche Gegenstände, die über eine Grenze verbracht und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Danach ist Software auf einem USB-Stick oder einer Festplatte in einem Laptop eine Ware, reine Datentransfers über das Internet dagegen nicht. Diese Differenzierung ist natürlich unbefriedigend, da es für den Anwender keinen Unterschied macht, ob eine Software bereits vor oder erst nach dem Grenzübertritt auf einem Datenträger gespeichert wird.
Das heißt, beispielsweise die digitalen Informationen für 3D-Druck werden nach EU-Auffassung nicht als Ware erfasst und somit gibt es auch kein Zollverfahren, wenn sie die Grenze überschreiten?
Sofern die digitale Information nicht verkörpert ist, nicht. Die zunehmende Digitalisierung der Lieferketten sorgt jedoch global bei einigen Staaten für Unbehagen und führt zu der Forderung, den Warenbegriff zu überdenken, um die Überwachung der grenzüberschreitenden Lieferungen auch bei nicht-verkörperter Gütern in den Händen der Zollverwaltungen zu halten. Es gibt zumindest in der EU keine Bestrebungen, die für die Steuerung von 3D-Druckern benötigten Datenströme der Abgabenerhebung zu unterwerfen, obwohl der maßgebliche Teil der Wertschöpfung in Drittländern erfolgen kann. Zudem sieht der Zolltarif der EU derzeit keine Tariflinien für digitale Wirtschaftsgüter vor, so dass für diese keine Zollsätze ermittelt und folglich auch keine Zölle erhoben werden können. Eine Ausweitung des Mandats der Zollbehörden auf digitale Erzeugnisse wäre sicherlich mit einem drohenden Vollzugsdefizit verbunden, da die Zollbehörden derzeit weder über die Technik noch die personellen Ressourcen verfügen, um digitale Schranken im Internet zu bedienen. Derzeit ist ohnehin keine Ausfuhranmeldung für digitale Übertragungen vorgesehen, sofern es sich nicht um exportkontrollrechtlich relevante Ausfuhren handelt. Auf der Einfuhrseite gibt es keinerlei Meldepflichten.
Und was sagt der Rest der Welt zur Frage Ware vs. Dienstleistung?
Bis heute konnten etwa die 166 Mitgliedstaaten der WTO, zwischen denen nahezu der gesamte globale Handel stattfindet, keinen Konsens zu der Frage erzielen, ob die elektronische Übermittlung digitaler Inhalte als Dienstleistung oder als Ware oder als eine Kombination von beidem anzusehen ist, wobei der Inhalt als Ware und der Transportvorgang als Dienstleistung zu kategorisieren seien. Die EU hat 1999 klargestellt, dass sie alle elektronischen Lieferungen als Dienstleistungen betrachtet; die USA favorisieren dagegen die Anwendung der für den Warenhandel maßgeblichen Regelungen. Gleichwohl zeichnen sich insbesondere in jüngerer Zeit verstärkte Tendenzen ab, den grenzüberschreitenden Datenfluss als Warenlieferung zu betrachten.
Viele der Themen, über die wir hier sprechen, gab es vor zehn, zwanzig Jahren noch gar nicht. Kommt das Recht des internationalen Handels der technischen Entwicklung überhaupt noch hinterher?
In der Tat: Mit zunehmender Bandbreite der Internetzugänge ist das Erfordernis, Datenträger in andere Länder zu verschicken, stark zurückgegangen. Die Beschränkung des Mandats der Zollbehörden auf den Warenverkehr ist auch deshalb bedeutsam, weil die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaftsgütern dazu führen wird, dass die Bedeutung des Handels mit digitalen Gütern und sein Anteil am Welthandel weiter ansteigt, während gleichzeitig die Bedeutung des „klassischen“ Warenhandels in erheblichem Maße abnehmen wird. Schon heute liegt der Anteil des Digitalhandels bei ca. 25 % des globalen Handels und die Frage ist gerechtfertigt, ob die bisherigen Zollregelungen noch zeitgemäß sind, wenn sie einen immer kleiner werdenden Teil des Außenhandels erfassen.
Die WTO beschäftigt sich bereits seit Mai 1998 offiziell mit dem Thema E-Commerce. Zudem bestehen auch diverse Handreichungen zum Umgang mit dem digitalen Handel, von dem auch digitale Informationen für den 3D-Druck erfasst sind. Dennoch ergeben sich nach wie vor wichtige Standards für das Zollrecht aus dem Regelwerk des Welthandelsrechts, das von der WTO verwaltet wird. Dies wurde jedoch lange vor Beginn der Digitalisierung geschaffen – das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT bereits unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs. Das Welthandelsrecht wird zuweilen nicht als geeignet angesehen, seine handelsliberalisierende Wirkung auch auf den digitalen Handel zu erstrecken. Selbst wenn es in den Bestimmungen keine spezifische Bezugnahme auf den digitalen Handel gab, bedeutete das jedoch nicht, dass sie nicht hinreichend flexibel sind, um auch neuartige Produkte zu erfassen.
Die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen physischen und digitalisierten Waren – insbesondere bei hybriden Produkten – führt auf Ebene des WTO-Rechts zu der Diskussion, ob die klassische Differenzierung zwischen Waren (die dem GATT unterfallen) und Dienstleistungen (für die die Regelungen des General Agreement on Trade in Services – GATS – bestehen), noch zeitgemäß ist. Denn die Liberalisierungsverpflichtungen der WTO-Mitgliedstaaten und die Integrationstiefe unterscheiden sich zwischen GATT und GATS grundlegend, während Produkte austauschbar werden und wahlweise als Ware oder Dienstleistung geliefert werden können (etwa Filme oder Programme auf Datenträger oder per Streamingdienst). So stören sich einige Staaten daran, dass Designs bzw. die Blaupausen für den 3D-Druck nicht als Waren erfasst werden, wenn sie digital geliefert werden. Auch bei der Kategorisierung als Dienstleistung ergibt sich die Problematik, zu kategorisieren, um welche Art der Dienstleistung es sich konkret handelt, da die WTO-Mitglieder ihren Marktzugang je nach Art unterschiedlich ausgestaltet haben. Zudem greifen etliche der im WTO-Paket enthaltenen Abkommen nur für Waren – bei handelshemmenden technischen Standards zum Datenaustausch wünscht man sich jedoch, dass die Regelungen des Übereinkommens zu technischen Handelshemmnissen (TBT) greifen, die aber ausschließlich auf den Warenverkehr anwendbar sind. Allerdings ist auch das GATS ein Förderer des freien Datenverkehrs: hat ein WTO-Mitglied seinen Markt für bestimmte grenzüberschreitende Dienstleistungen geöffnet, so darf er den Fluss der dafür benötigten Daten nicht behindern. Die parallele Anwendung von GATT und GATS ist jedoch im WTO-Recht grundsätzlich nicht möglich. Das heißt, wir haben es entweder mit einer Ware zu tun oder mit einer Dienstleistung. Ein Hybrid aus beiden ist rechtlich nicht vorgesehen.
Selbst wenn es beim Datentransfer an einer Verkörperung fehlt, werden die Regelungen zum Dienstleistungshandel der Datenübermittlung nicht gerecht. Im Rahmen der Argumentation wird außerdem darauf hingewiesen, dass auch der elektrische Strom WTO-rechtlich (und auch vom EuGH) als Ware angesehen wird.
Anders als das GATT enthält das WTO-Übereinkommen über Handelserleichterungen (Trade Facilitation Agreement, TFA), welches 2017 in Kraft getreten ist, ausdrückliche Regelungen, die sich mit digitalen Technologien befassen, wie etwa die Akzeptanz elektronischer Dokumente und elektronischer Bezahlung, aber wiederum keine klare Abgrenzung zwischen Ware und Dienstleistung.
Wie geht die internationale Gemeinschaft denn mit dieser etwas vertrackten Rechtslage um?
Zur vorläufigen Regelung dieses grundlegenden Meinungsstreits besteht seit 1998 auf WTO-Ebene ein – zwischendurch immer wieder verlängertes – Moratorium für die Erhebung von Zöllen auf Datensendungen, in dem sich die WTO-Mitglieder aber nicht zur Differenzierung zwischen GATT und GATS äußern. Interessant dabei ist: Ein solcher Aufschub des Rechts auf Erhebung von Zöllen auf digitale Lieferungen macht nur Sinn, wenn Daten als Waren eingestuft werden, denn auf Dienstleistungen werden (zumindest bislang) keine Zölle erhoben. Allerdings ist das Moratorium nicht rechtsverbindlich und andererseits verbietet das WTO-Recht auch nicht die Erhebung von Zöllen auf Dienstleistungen, auch wenn so etwas bislang noch in keinem Staat praktiziert wurde.
Die Gemengelage ist kompliziert: Große Volkswirtschaften wie China möchten das Internet nicht nur inhaltlich, sondern auch zollamtlich überwachen, da durch die zunehmende Digitalisierung des Außenhandels und den damit verbundenen Wegfall von Zöllen erhebliche Löcher im Staatshaushalt drohen. Die Einstufung als Waren kann dabei den Zugriff durch den Zoll vereinfachen. Dass auch die USA nach wie vor digitale Produkte als Waren betrachten, ergibt sich zum Beispiel aus dem jüngsten Handelsabkommen mit Japan, das ein ausdrückliches Verbot der Erhebung von Zöllen auf digitale Produkte, die elektronisch geliefert werden, enthält. Den USA geht es also nicht um die Erhebung von Einfuhrzöllen, sondern als bedeutender Exporteuer von digitalen Produkten um den im Vergleich zu Dienstleistungen verbesserten Marktzugang für Waren in anderen WTO-Mitgliedstaaten.
Klare und einheitliche Bestimmungen können also nur neue WTO-Regelungen zum E-Commerce bringen, wobei von diesem Begriff auch physische Warenlieferungen erfasst werden, die auf einem elektronischen Vertragsschluss beruhen. Immerhin hatten 76 WTO-Mitglieder auf dem World Economic Forum 2019 in Davos (darunter die EU, die USA, China und Australien) – ausgehend von der 11. WTO-Ministerkonferenz im Jahr 2017 – beschlossen, Verhandlungen über ein WTO-Abkommen zum E-Commerce zu beginnen. Zwar existierte schon seit 1998 das Arbeitsprogramm der WTO zum E-Commerce, das aber keine Grundlage für formelle Verhandlungen bot. Auf Basis der neuen Initiative konnte sich Ende Juli eine große Gruppe von WTO-Mitgliedern auf einen finalen Verhandlungstext über ein multilaterales Abkommen zu E-Commerce (Joint Statement Initiative = JSI E-Commerce) einigen. Insgesamt 91 WTO-Mitglieder, darunter sämtliche EU-Mitgliedstaaten, die USA, Kanada und China, die für mehr als 90 % Prozent des Welthandels stehen, haben an den Verhandlungen teilgenommen. Es sollen aber längerfristig möglichst alle WTO-Mitglieder dem Abkommen beitreten, um es vollständig in die multilaterale Handelsordnung zu integrieren.
Mit dem JSI E-Commerce wurden erstmals globale Regeln für den digitalen Handel ausgehandelt. Ihr Ziel ist es, den grenzüberschreitenden elektronischen Handel zu erleichtern, Handelshemmnisse für digital erbrachte Dienstleistungen und digitale Transaktionen abzubauen und auch die Schwellen- und Entwicklungsländer stärker in den globalen digitalen Handel zu integrieren. Dazu enthält der Abkommenstext ein Verbot der Erhebung von Zöllen auf elektronische Übertragungen, wodurch das bisherige Moratorium in eine verbindliche Form gegossen wird. Allerdings vermeidet auch das JSI E-Commerce eine Definition des Warenbegriffes und verwendet den Begriff der „electronic transmissions“, wodurch den WTO-Mitgliedern die Einstufung digitaler Produkte als Ware oder Dienstleistung nach wie vor überlassen bleibt. Die Frage, ob der Zoll auf digitale Warenlieferungen zugreifen kann, bleibt damit auf internationaler Ebene unbeantwortet.
Eine Abkehr von dem physischen Anknüpfungspunkt für die Zollerhebung wiese übrigens starke Verwandtschaft mit dem OECD-Ansatz für eine Reform im Bereich der Besteuerung der Digitalkonzerne auf: während bislang darauf abgestellt wurde, wo ein Unternehmen physisch vertreten wird, soll eine Zuteilung von Besteuerungsrechten künftig auch die Länder berücksichtigen, in denen ohne physische Präsenz eine hohe Wertschöpfung stattfindet. Es dürfte bei der Einführung von Zollschranken im Internet natürlich nicht lange dauern, bis sich eine Protestwelle gegen die „Zensur des Internets“ stellen wird. Allerdings wäre die abgabenrechtliche Belastung bestimmter digitaler Produkte von der Inhaltskontrolle zu unterscheiden. Zudem darf der elektronische Handel die Rechte des geistigen Eigentums nicht beeinträchtigen (was bei physischen Lieferungen durchaus vom Zoll kontrolliert wird) und muss mit internationalen Datenschutzstandards vereinbar sein.
Was leisten Freihandelsabkommen in dieser Hinsicht – bald, oder auch heute schon?
Das Beispiel des Freihandelsabkommens zwischen den USA und Japan zeigt, dass die Frage der zollamtlichen Erfassung digitaler Produkte mehr und mehr außerhalb des eigentlichen WTO-Rechts geregelt wird. Diese bi- oder plurilateralen Vereinbarungen schaffen die Grundlage für die elektronische Zollabwicklung, erstrecken sich aber nicht spezifisch auf digitalisierbare Erzeugnisse. Stärker noch als die multilateralen Regelungen des WTO-Rechts befassen sich Regionale Handelsabkommen zunehmend mit den Auswirkungen der digitalen Technologien auf den zwischenstaatlichen Handel. Hier findet sich der Ansatz, dass diese Standards als Vorlage für neue oder den Ausbau bereits vorhandener WTO-Regelungen dienen könnten. In modernen Freihandelsabkommen wie zwischen EU und Singapur wurden bereits eine Vereinbarung getroffen, keine Zölle auf elektronische Übertragungen zu erheben, wodurch – wie im JSI E-Commerce – das WTO-Moratorium perpetuiert wird. Im Hinblick auf neue Technologien wie die additive Fertigung wird im Abkommen über den digitalen Handel zwar keine Kategorisierung dieser als Ware oder Dienstleistung vorgenommen, dennoch werden wichtige Standards normiert. Beispielsweise werden klare Regelungen zum Schutz der Grundrechte, wie etwa der Privatsphäre und dem generellen Schutz von Verbrauchern, insbesondere deren Daten, geschaffen. Insgesamt soll eine Erleichterung elektronischer Transaktionen, z. B. über elektronische Signaturen oder elektronische Authentifizierung sowie mehr Rechtssicherheit für Unternehmen und die Stärkung des Vertrauens, beispielsweise durch den Schutz von Computer-Quellcodes oder der Vermeidung von erzwungenem Technologietransfer, erzielt werden, was besonders im Rahmen der additiven Fertigung von Bedeutung ist. Ebenso soll der Verwaltungsaufwand für den elektronischen Geschäftsverkehr über den papierlosen Handel oder die elektronische Rechnungsstellung abgebaut werden. Viele neuere Freihandelsabkommen enthalten ebenso eigene Kapitel mit Regelungen, die den freien Datenverkehr gewährleisten sollen. Ein solcher kann auch für die Herstellung klassischer Waren von großer Bedeutung sein, wenn etwa Produktionsstandorte in verschiedenen Ländern einer neu gegründeten Freihandelszone vernetzt werden sollen. Die Zuweisung der Verantwortung für die Durchsetzung dieser Regelungen bleibt aber den einzelnen Vertragsstaaten überlassen.