Special | V4-Länder | Tschechien
Tschechien: Starke Industrie und viel technologische Innovation
Autos sind bei Weitem nicht alles
Geografisch im Herzen Europas gelegen, ist die Tschechische Republik überaus handelsoffen und ein natürlicher Logistikhub. Die lange Maschinenbautradition, viel technologischer Sachverstand und eine starke Position der Industrie bilden die Basis der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Deutschland. Tschechien ist Deutschlands zehntwichtigster Handelspartner. Maschinen, Fahrzeuge und ihre Teile dominieren dabei.
02.06.2023
Von Miriam Neubert | Prag
Mit den Pkw-Werken von Škoda Auto, Hyundai und Toyota sowie Hunderten von Zulieferern spielt die Kraftfahrzeugbranche in Tschechien zwar die Hauptrolle im verarbeitenden Gewerbe. Doch ist die Industriestruktur breit angelegt, mit zuverlässigen Stützen auch im Maschinenbau, der Metallverarbeitung, Elektronik und Elektrotechnik, Kunststoffverarbeitung oder Nahrungsmittelerzeugung.
Eine pragmatische Ansiedlungspolitik und das Potenzial tschechischer Firmen haben viel ausländisches Kapital ins Land gebracht. Besonders stark vertreten ist es im verarbeitenden Gewerbe, wo die Niederlassungen ausländischer Unternehmen fast 70 Prozent der Umsätze verzeichnen. In den anderen Wirtschaftszweigen sind es zwischen 10 und 40 Prozent. Wegen der vergleichsweise niedrigen Arbeitskosten galt Tschechien anfangs als verlängerte Werkbank für ausländische Investoren. Doch sind Forschung und Entwicklung (F&E) längst nachgezogen.
Seit 2010 haben sich die F&E-Ausgaben in ausländisch dominierten Firmen fast verdreifacht, in rein tschechischen praktisch verdoppelt, stellte das Tschechische Statistikamt fest. Gemeinsam stemmen sie 63 Prozent der Forschungsaufwendungen. Insgesamt erreichten diese 2021 erstmals 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und liegen deutlich höher als in den anderen V4-Staaten. Ein Beispiel: Das Brünner Technologiezentrum des US-Konzerns Honeywell wird ab 2023 mit Partnern im Rahmen des EU-Programms Clean Aviation einen Wasserstoffantrieb für Flugzeuge entwickeln. Tschechiens Luft- und Raumfahrtbranche ist innovationsstark. Nicht ohne Grund wurde Prag Sitz der EU-Agentur für das Weltraumprogramm (EUSPA), die gegenwärtig expandiert und in ein neues Gebäude investiert.
817 Kilometer gemeinsame Grenze haben Tschechien und Deutschland. |
Innovationsleistung nimmt zu
Geht es nach den Daten des Europäischen Innovationsanzeigers, hat die Innovationsleistung 2022 so zugelegt wie sonst nur noch in Irland und Finnland. Er zählt Tschechien zu den moderaten Innovatoren. Das Land strebt aber in den Wertschöpfungsketten ganz nach oben. Chancen auf staatliche Förderung haben nur noch Projekte, die strategisch sind oder F&E unter Nutzung von Schlüsseltechnologien etablieren, Innovationen und höher vergütete Arbeitsplätze mit sich bringen.
Zur Weltspitze gehört Tschechien zum Beispiel im 3D-Druck mit innovativen Herstellern wie Prusa Research oder in der Elektronenmikroskopie mit Tescan, dem Brünner Entwickler und Produzenten von Rasterelektronenmikroskopen. In der Pandemie machte sich der Vorsprung in der angewandten Nanotechnik bezahlt, da rasch eine Produktion von Filtern und Masken starten konnte. Das Anwendungspotenzial geht aber weit darüber hinaus. In Olomouc entwickelt das Institut für fortgeschrittene Technologien CATRIN in internationaler Zusammenarbeit Nanomaterialien, die in Superkondensatoren bei der Energiespeicherung zum Einsatz kommen oder solche, die Schwermetalle im Wasser aufspüren und liquidieren.
Erste Einhörner in der Start-up-Szene
Wichtige Innovationsimpulse kommen aus der IT-Branche und einem regen Start-up-Ökosystem. Unter den 50 am schnellsten wachsenden Techunternehmen in Mittel- und Osteuropa zählte Deloitte 2022 ein Dutzend tschechische Firmen, darunter auf Rang 1 das tschechische Fintech FTMO, eine sich rasant entwickelnde Proprietary Trading-Plattform. Inländische und ausländische Risikokapitalgeber sind auf den Geschmack gekommen. So konnten die ersten über 1 Milliarde Dollar schweren Einhörner heranwachsen: Sicherheitssoftwareentwickler Avast, der 2022 mit der amerikanischen NortonLifeLock fusionierte; Onlinesupermarkt Rohlik.cz, der als Knuspr.de nach Deutschland expandiert. Jüngstes Exemplar wurde 2022 die cloudbasierte Produktmanagementplattform Productboard.
Chancen für deutsche Unternehmen
"Für deutsche Unternehmen bleibt Tschechien ein wichtiger Investitionsstandort, ein wachsender Absatz- und Beschaffungsmarkt", urteilt Bernard Bauer, Geschäftsführer der AHK Tschechien. Neue Anknüpfungspunkte sieht er etwa in 5G-Anwendungen, wie sie grenzüberschreitend Tschechien und Bayern erproben wollen oder in einer engeren Zusammenarbeit bei der Elektro- und Wasserstoffmobilität.
Die schwächelnde Konjunktur wird 2023 die Investitionsdynamik dämpfen. Doch zwingende Themen bleiben: Der Personalmangel fördert Investitionen in die Automatisierung. Der Gebäudebestand muss energieeffizient saniert werden. Die hohe Energieintensität erfordert effizientere Produktionstechnologien und Prozesse. Projekte werden durch frische EU-Fördermittel massiv unterstützt. Hinzu kommt der Modernisierungsfonds, dessen 6 Milliarden Euro bis 2030 in so ziemlich alles fließen, was Treibhausemissionen senkt: erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Speicher, Mess- und Regeltechnik, Elektrolyseure, hochwirksame Blockheizkraftwerke oder Leuchttechnik.
Deutsche Anbieter von Hocheffizienztechnologien haben gute Chancen, von dieser grünen Transformation zu profitieren. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist zusätzlich die Energiesicherheit ein Treiber. Im Trend liegen Kommunalenergetik, die Aufbereitung von Biogas zu Biomethan, das Batterierecycling. Der Markt für Fotovoltaikanlagen und Wärmepumpen boomt.
Großprojekte weisen in die Zukunft
Hinzu kommen große Projekte. So startete 2022 der Bau der Prager Metrolinie D. Die Hauptstadt plant eine moderne Moldau-Philharmonie als Herz eines neuen Stadtviertels. Die Ausschreibung eines weiteren Blocks für das Atomkraftwerk Dukovany läuft. Der Energiekonzern ČEZ will 2023 über den Lithiumerzabbau im Erzgebirge entscheiden. Die Vorbereitung der Hochgeschwindigkeitszugtrassen geht in die Endphase, mit dem Bau soll es 2027 losgehen. Eine der Neubaustrecken wird die Fahrt von Prag nach Dresden auf eine Stunde verkürzen.
Der private Konsum dürfte durch die auch für 2023 erwartete hohe Inflation nachgeben. Aber er wird sich wieder erholen und damit die Konsumgüternachfrage. Das Lebensniveau liegt gemessen als BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten laut Eurostat bereits bei 91 Prozent des EU-Durchschnitts. Das ist deutlich höher als in den übrigen Visegrád-Staaten, aber auch in Ländern wie Spanien, Portugal oder Japan.