Wirtschaftsumfeld | Tschechische Republik | Wirtschaftsstruktur
IT und Handel bestimmen immer mehr die Wirtschaftsstruktur
Das verarbeitende Gewerbe mit der Automobilindustrie dominiert weiter Tschechiens Wirtschaftsleistung. Doch erste Umbrüche deuten sich an, Dienstleistungen gewinnen an Bedeutung.
30.01.2024
Von Gerit Schulze | Prag
Tschechien durchlebt zurzeit eine ungewöhnlich lange Schwächephase. Dadurch gerät die seit dem EU-Beitritt 2004 eingesetzte wirtschaftliche Dynamik ins Stocken. Der Höchststand der Wirtschaftsleistung aus dem Jahr 2019 konnte nach dem Einbruch infolge der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine bislang nicht wieder erreicht werden. Damit fällt das Land im regionalen Vergleich zurück. Das Bruttoinlandsprodukt im Nachbarland Polen wuchs seit dem EU-Beitritt jährlich um 1,5 Prozentpunkte schneller als die tschechische Wirtschaft. Die Slowakei legte jedes Jahr um fast 1 Prozentpunkt kräftiger zu.
Tschechien stößt an seine Wachstumsgrenzen, weil das Arbeitskräftepotenzial erschöpft ist, weil die starke Abhängigkeit von russischen Energieträgern die Preise für Öl und Gas seit Moskaus Ukraineinvasion enorm erhöht hat und weil der Strukturwandel in den Kernbranchen Automobilindustrie, Chemie und Maschinenbau nur langsam vorankommt.
Autobranche kommt nur langsam aus dem Tief
Die wichtige Industriebranche Automobilwirtschaft kann bislang nicht an ihre alten Rekorde anknüpfen. Während das Nachbarland Slowakei in den letzten Jahren mit Jaguar Land Rover und Volvo zwei weitere Weltkonzerne von einer neuen Produktionsstätte überzeugen konnte, ging Tschechien leer aus. Die Fahrzeugproduktion erreichte ihr Maximum im Jahr 2018 mit 1,44 Millionen Pkw. Im Jahr 2023 stieg der Ausstoß allerdings um 15 Prozent auf 1,4 Millionen Autos.
Nur langsam gelingt die Umstellung auf neue Antriebsarten. Nicht einmal jedes zehnte in Tschechien produzierte Auto war 2023 ein reines Elektrofahrzeug. Die Versuche, internationale Konzerne für den Aufbau einer Batterieproduktion zu gewinnen, sind bislang gescheitert.
Eine schwächelnde Fahrzeugbranche ist eine Gefahr für die tschechische Wirtschaftsentwicklung. Denn laut Automobilverband AutoSAP entfallen 9 Prozent des BIP und ein Drittel der Forschungsausgaben auf den Automobilsektor.
Die Regierung strebt an, neue Wirtschaftszweige zu unterstützen und anzusiedeln. Dazu gehören die Halbleiterproduktion und künstliche Intelligenz. Außerdem soll die Infrastruktur so ausgebaut werden, dass Tschechien zum logistischen Drehkreuz in Europa wird. Im Stromsektor sind massive Investitionen in erneuerbare Energiequellen und in die Atomkraftwerke Dukovany und Temelín geplant. Der Energieverbund mit Deutschland soll höhere Kapazitäten erreichen.
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Nimbus des Standorts bröckelt
Nach ihrem EU-Beitritt war die Tschechische Republik eines der attraktivsten Investitionsziele deutscher Unternehmen. Der Bestand der deutschen Direktinvestitionen belief sich Ende 2021 laut Bundesbank auf über 26,6 Milliarden Euro. Allerdings hat der Standort zuletzt an Attraktivität verloren. Im World Business Outlook der Auslandshandelskammern (AHK) beurteilten die befragten Firmenchefs die Konjunkturerwartungen in Tschechien schlechter als in den meisten anderen EU-Ländern. Als größte Risiken wurden die schwache Nachfrage, der Fachkräftemangel und die hohen Energiepreise genannt.
Die meisten deutschen Unternehmen im Land wollen aber engagiert bleiben. Fast jede zweite Firma plant laut der Umfrage Investitionen in den Ausbau der Produktion.
Produzierendes Gewerbe bleibt dominant
Die verarbeitende Industrie bildet das Rückgrat der tschechischen Wirtschaft. Sie hatte 2022 einen Anteil von 23 Prozent an der Bruttowertschöpfung im Land. Allerdings müssen Branchen wie Metallverarbeitung, Chemie oder Maschinenbau in den nächsten Jahren ihre Klimabilanz nachhaltig verbessern, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Noch ist die Bedeutung des produzierenden Gewerbes für die Gesamtwirtschaft stabil und hat sich in den vergangenen zehn Jahren nur leicht verringert. Stärker war der Rückgang beim Energiesektor, der nur noch einen Anteil von 2,3 Prozent an der Wertschöpfung hat. Im Jahr 2012 waren es noch 4 Prozent. Die Förderung von Bodenschätzen spielt nach der Schließung vieler Kohlegruben kaum noch eine Rolle für die Wirtschaftsleistung.
An Einfluss gewonnen hat der Groß- und Einzelhandel, der inzwischen fast 13 Prozent zur Bruttowertschöpfung in Tschechien beiträgt. Auch Informationstechnologien und Telekommunikation sowie das Gesundheitswesen legen zu.
Die Verschiebungen bei der Wertschöpfung werden sich auch auf dem Arbeitsmarkt auswirken. Noch sind über 200.000 Menschen direkt in der Fahrzeugproduktion beschäftigt. Doch die Zahl ist seit fünf Jahren bereits um ein Zehntel geschrumpft. Dieser Abbau wurde durch neue Stellen in der IT-Branche sowie im Gesundheits- und Pflegesektor kompensiert.
Sektoren | Anteil an der Bruttowertschöpfung 2022 | Anteil an den Beschäftigten 2022 *) |
---|---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 2,1 | 2,9 |
Bergbau (inklusive Öl- und Gasförderung) | 0,6 | 0,4 |
Verarbeitendes Gewerbe | 23,1 | 25,6 |
Energieversorgung | 2,3 | 0,8 |
Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen | 1,0 | 1,2 |
Baugewerbe | 5,6 | 7,7 |
Dienstleistungen | 65,3 | 61,5 |
Viele starke Zentren neben der Hauptstadt Prag
Die Hauptstadt Prag ist das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes. Hier entsteht ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts, vor allem dank hoher Kaufkraft, einem starken Dienstleistungs- und Tourismussektor und als Verwaltungs- und Konzernsitz. Tschechiens industrielle Schwerpunkte liegen rund um Ostrava, Plzeň und Brno. Mittelböhmen, der Speckgürtel rund um die Hauptstadt, ist Schwerpunkt des Logistiksektors und der Automobilindustrie (Škoda in Mladá Boleslav, Toyota in Kolín).
Brno profitiert als zweitgrößte Stadt des Landes von seiner Hochschullandschaft und staatlich geförderten Technologiezentren. Es ist der wichtigste Messestandort Mittelosteuropas und eine Start-up-Hochburg. Einige führende Softwareproduzenten haben in Brno ihren Sitz. Außerdem ist die Region ein Zentrum der Elektronik- und Flugzeugindustrie.
Die Industriestadt Ostrava steckt, wie die gesamte Region Mährisch-Schlesien, im Strukturwandel weg von Kohle und Stahl, hin zu Dienstleistungen und neuen Technologien. In ähnlich schwieriger Transformation befinden sich die Regionen Ústí nad Labem und Karlovy Vary.