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Ukraine hat sich die grüne Energiewende fest vorgenommen
Gegenwärtig repariert die Ukraine ihre Energieinfrastruktur notdürftig. Nach dem Krieg soll das Energiesystem aber nachhaltig und resilient wiederaufgebaut werden.
31.03.2023
Von Viktor Ebel | Bonn
Die Ukraine besitzt ein enormes Potenzial für die Produktion von grünem Strom aus Wind und Sonne. Obwohl Atom- und Wärmekraftwerke traditionell stark verbreitet sind, setzten sich Solar- und Windkraftanlagen in den letzten Jahren dank lukrativer Einspeisevergütung immer mehr durch. Sie trugen 2021 mit 8 Prozent zur Stromproduktion bei.
Kurz vor Kriegsbeginn veröffentlichte die ukrainische Regierung im Februar 2022 ihre langfristige Energiestrategie bis 2050, in der sie sich zu Klimaneutralität und einer Integration in den europäischen Energiemarkt bekennt. Trotz der vom Krieg verursachten Zerstörung und Ungewissheit bekräftigen ukrainische Politiker ihre Ambitionen für den grünen Wiederaufbau des Landes.
Nahezu Klimaneutralität bis 2050
Mit ihrer Energiestrategie will die Ukraine ihre wirtschaftlichen Entwicklungsziele mit ihren internationalen Verpflichtungen für den Klimaschutz in Einklang bringen. Bis 2050 soll ein innovatives und dezentrales Energiesystem geschaffen werden, welches nahezu kein CO₂ mehr ausstößt. Im Januar 2023 bestätigte der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko, dass bis 2050 über 90 Prozent des Stroms aus klimaneutralen Quellen (inklusive Kernenergie) stammen soll.
Hierfür will die Regierung:
- den Kohleeinsatz im Energiesektor so weit wie möglich verringern,
- die Energieinfrastruktur erneuern und modernisieren,
- die Effizienz der Ressourcennutzung im Energiesektor verbessern,
- alternative Energiequellen und innovative Lösungen im Energiesektor entwickeln,
- die Integration mit den europäischen Netzen und Märkten vorantreiben.
Einem Entwurf des Nationalen Aktionsplans für erneuerbare Energien zufolge soll der Anteil der Erneuerbaren am Strommix bis 2030 rund 25 Prozent betragen.
Schon vor Kriegsbeginn sorgte die ukrainische Regierung für Aufsehen, als sie 2020 die zugesagten Vergütungen für Wind- und Solarstrom um 7,5 beziehungsweise 15 Prozent senkte. Nach Beginn des russischen Angriffs wurde die Auszahlung auf einen Bruchteil des ursprünglich vereinbarten Betrags gesenkt - auf 15 Prozent für Strom aus Fotovoltaik und auf 16 Prozent für Windenergie. In der Praxis werden aber selbst diese Summen nicht ausgezahlt, so deutsche Anlagebetreiber gegenüber Germany Trade & Invest. |
Lugano-Aufbauplan sieht 130 Milliarden US-Dollar für Energiesektor vor
Im Juli 2022 trafen sich rund 40 Staatschefs im schweizerischen Lugano und einigten sich auf eine Roadmap zum Wiederaufbau der Ukraine. Die Kosten dafür bezifferte der ukrainische Premierminister Denis Schmyhal auf 750 Milliarden US-Dollar (US$), darunter 130 Milliarden US$ für den Energiesektor. In einer ersten Phase sollen bis 2025 wichtige Reparaturen durchgeführt und die Ukraine energetisch vollständig von Russland abkoppelt werden. Die Investitionen hierfür werden auf 14 Milliarden US$ geschätzt.
Projekt | Benötigte Investitionen (in Mio. US$) |
---|---|
Aufstockung der Erdgasvorräte | 5.000 |
Modernisierung der Gasversorgungsinfrastruktur | 2.500 |
Erweiterung der Raffineriekapazität (Wiederaufbau der Raffinerie in Krementschuk; Bau der Öl-Pipeline Brody-Adamova Zastava) | etwa 2.500 |
Schaffung von Reserven für Erdöl und Erdölprodukte für mindestens 30 Tage | mindestens 1.200 |
Verbindung der Öl-Infrastruktur mit der EU und Schaffung von Lagerkapazitäten in der Westukraine | 700 |
Ausbau der grenzüberschreitenden Stromleitungen in EU-Länder | etwa 600 |
Reparatur von Wärmekraftwerken, darunter in Krementschuk, Tschernihiw und Ochtyrka | 600 |
Zwischen 2024 und 2032 soll dann mit weitreichenden Investitionen in Höhe von 114 Milliarden US$ die grüne Transformation der Ukraine eingeleitet werden. Neben Erneuerbaren Energien spielt auch die Atomkraft weiterhin eine tragende Rolle. Die Kohleverstromung hingegen steht vor dem Aus, spätestens bis 2035 will die Ukraine den Kohleausstieg vollzogen haben. Perspektivisch will Kiew mit Strom aus erneuerbaren Quellen grünen Wasserstoff produzieren und diesen nach Europa exportieren.
Projekt | Benötigte Investitionen (in Mrd. US$) |
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Über 30 GW Leistung aus Erneuerbaren Energien für die Produktion von grünem Wasserstoff | 38 |
Erhöhung der Gasförderung und Erschließung neuer Felder* | etwa 18 |
5 - 10 GW Leistung aus Solar- und Windkraft sowie 3,5 GW Leistung aus Wasser- und Pumpspeicherkraftwerken | 15 |
Erhöhung der Kapazitäten von Atomkraftwerken (darunter neue Reaktorblöcke mit 2 GW Leistung im Atomkraftwerk Chmelnyzkyj) | etwa 14 |
Anschaffung von Elektrolyseuren mit Gesamtkapazität von 15 GW für die Produktion von Wasserstoff | etwa 7 |
Bau von intelligenten Stromnetzen (smart grids) | 5 - 10 |
Entwicklung der Biokraftstoffproduktion (Bioethanol, Biodiesel, Biomethan) aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Abfall | etwa 4,2 |
Bau von 1,5 - 2 GW Kapazitäten (Spitzenlastkraftwerke) und 0,7 - 1 GW Speicherkapazität | etwa 2,8 |
Lokalisierung der Produktion von Ausrüstung für Erneuerbare Energien (darunter Strommasten, Transformatoren, Kabel, Elektrolyseure, Lithium-Batterien) | etwa 2 |
Entwicklung der Infrastruktur für Wasserstofftransport innerhalb der Ukraine und ins Ausland | 2 |
Lokalisierung der Wertschöpfungskette der Atomwirtschaft (nachhaltiger Abbau von Uran, Anreicherungsanlagen, Endlagerung) | 1,3 |
Gebiete im Süden haben die meisten Wind- und Sonnenstunden
Das Institut für erneuerbare Energien in der Ukraine schätzte das Potenzial alternativer Energiequellen im Jahr 2020 auf 874 Gigawatt. Das meiste davon wird der Windkraft (inklusive Offshore-Anlagen in den Hoheitsgewässern der Ukraine) zugesprochen, gefolgt von Sonnenenergie, Wasserkraft, Geothermie und Biomasse. Die besten Bedingungen für die Produktion von grünem Strom herrschen daher in den an das Schwarze und Asowsche Meer grenzenden Regionen Odessa, Mikolajiw, Saporischschja und Cherson sowie Dnipropetrowsk.
Vor Kriegsausbruch waren grüne Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 9.656 Megawatt installiert. Der Kriegsausbruch ist jedoch ein massiver Rückschlag für die Branche: Schon im Sommer 2022 wurde gemeldet, dass 90 Prozent aller Windräder zerstört oder besetzt wären. Auch die Hälfte der Solaranlagen hat der ukrainische Energieminister im Oktober 2022 als verloren gemeldet.
Ukrainischer und europäischer Strommarkt wachsen zusammen
Trotz vieler Rückschläge gibt es auch Erfolge zu vermelden: Seit März 2022 ist die Ukraine mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz verbunden. Das verbessert die Versorgungssicherheit und garantiert einen möglichen Notfallbetrieb der ukrainischen Atomkraftwerke. Der ursprünglich erst für 2023 geplante Zusammenschluss zielt auch darauf ab, die Energiemärkte der EU und der Ukraine zusammenwachsen zu lassen. Vorgezogen wurde auch die polnisch-ukrainische Energiebrücke, welche das polnische Rzeszów über eine 400-Kilovolt-Leitung mit der westukrainische Region Chmelnyzkyj verbindet. Dort befindet sich ein Kernkraftwerk, dessen Strom in Zukunft auch in die EU exportiert werden soll.
Dies könnte laut dem Vorsitzenden des parlamentarischen Energieausschusses, Andriy Gerus, bereits früher als erwartet der Fall sein, da tagsüber Stromüberschüsse entstehen. Diese sollen exportiert werden, da die Überkapazitäten sonst dazu führen, dass Solarkraftwerke in ihrer Stromerzeugung beschränkt werden. Alternativ könne der Strom auch zwischengespeichert werden, doch wären hierfür laut Gerus erst beträchtliche Investitionen in Energiespeicher nötig.
Energiespeicher und Atomkraft werden wichtige Rolle spielen
Den rechtlichen Rahmen für Energiespeicher hat die ukrainische Regierung im Februar 2022 geschaffen, als sie das Gesetz zur Entwicklung von Energiespeichersystemen verabschiedete. Im Juni 2022 trat das Gesetz in Kraft. Seitdem sind die Bedingungen für den Betrieb von Energiespeichern definiert und die Betreiber als Teilnehmer am Strommarkt anerkannt.
Nicht ganz so neu, aber dennoch wichtig, bleibt die Kernkraft. Bis 2030 will die Ukraine 2 Gigawatt an neuen Kapazitäten in ihren Atomkraftwerken schaffen. Dabei sollen erstmalig kleine, modulare AR1000-Reaktoren des amerikanischen Unternehmens Westinghouse zum Einsatz kommen, deren Kosten auf 5 Milliarden US$ pro Einheit beziffert werden. Die Rohstoffe bezieht die Ukraine in Zukunft vom kanadischen Uran-Riesen Cameco. Dieser wird laut einer Vereinbarung vom März 2023 zwischen 2024 und 2035 den ukrainischen Bedarf an Uranhexafluorid zu 100 Prozent decken, welches anschließend zu Brennstoff angereichert wird.