Wirtschaftsausblick | Ungarn
Ungarns Wirtschaft zurück auf Wachstumskurs
Leicht gestiegene Konsumausgaben senden positive Impulse. Das Wirtschaftswachstum soll sich fortsetzen, ist aber mit Risiken behaftet. Die Industrieproduktion sinkt weiterhin.
30.06.2024
Von Kirsten Grieß | Budapest
Top-Thema: Ungarn bangt um den Absatz von Elektroautos
Die Achillesferse des Aufschwungs ist die Kfz-Industrie, Ungarns wichtigster Industriezweig. Sie verzeichnete zuletzt rückläufige Produktionszahlen wegen der gesunkenen Auslandsnachfrage. Auch der Absatz der stark geförderten Batterie- und Batteriezellenproduktion brach 2024 ein.
Die Lage spiegelt sich in Reaktionen der Industrie wider. Der südkoreanische Batteriehersteller SK On verschob eine Werkseröffnung und entließ im Mai 2024 knapp 600 Mitarbeiter. Die ungarische Regierung beobachtet die Entwicklung mit Sorge und sucht Wege, den Absatz von Elektroautos europaweit anzukurbeln. Dafür will Budapest die ungarische EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2024 nutzen. Die Regierung kündigte einen EU-Aktionsplan für Kaufanreize an.
Auch an anderer Stelle macht Elektromobilität in Ungarn Schlagzeilen: Immer mehr Verstöße von Batterieherstellern gegen Umweltauflagen werden bekannt und Proteste von Anwohnern nehmen zu. Für die Regierung ist Elektromobilität seit einigen Jahren wichtiger Teil ihrer Industriestrategie. Ausländische Großprojekte werden mit Milliarden an Steuergeldern gefördert. Die Ansiedlungspolitik könnte unter Druck geraten.
Wirtschaftsentwicklung: Rezession scheint gestoppt
Nachdem die reale Wirtschaftsleistung 2023 um 0,9 Prozent schrumpfte, begann das 1. Quartal 2024 mit einem Plus von 1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Für das Gesamtjahr 2024 erwartet die Europäische Kommission ein reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,4 Prozent. Andere Prognosen fallen verhaltener aus und bewegen sich um die Zwei-Prozent-Marke.
Leicht gestiegene öffentliche und private Konsumausgaben trugen die konjunkturelle Erholung. Anfang 2024 gelang es der ungarischen Nationalbank (MNB), die Inflation mit einem Rekordwert von durchschnittlich 17,6 Prozent im Vorjahr auf unter 4 Prozent zu drücken. Die MNB erwartet, dass die Reallöhne 2024 um bis zu 6,5 Prozent wachsen werden. Für die kommenden Monate gehen Analysten davon aus, dass die Teuerungsrate erneut leicht auf bis zu 5 Prozent steigen könnte.
Industrieproduktion sinkt weiter
Solange die Nachfrage in Europa schwach bleibt, ist eine deutliche Erholung für Ungarns Industrie nicht in Sicht. Die ungarische Industrie ist auf europäische Märkte angewiesen, rund 80 Prozent aller Exporte gingen 2023 in EU-Länder.
Die Industrieproduktion setzte ihren Negativtrend im 1. Quartal 2024 mit einem Minus von 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum fort. Auch die bisher robuste Automobilproduktion schrumpfte um 5,1 Prozent. Der größte Rückgang erfolgte im März. Möglicherweise ist die Talsohle damit noch nicht erreicht.
Für die Bauwirtschaft sind die Aussichten 2024 dagegen verhalten positiv. Im 1. Quartal 2024 meldete die Branche ein Plus von 2,6 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Allerdings beschränken sich die Zuwächse auf bestimmte Segmente. Gebaut wird vor allem in Industriegebieten, an der notwendigen Infrastruktur und an Fabriken ausländischer Investoren.
Eine leichte Erholung im Wohnungsbau verspricht ein neues Programm zinsloser Darlehen zur energetischen Sanierung von Eigenheimen. Kreditanträge können ab 1. Juli eingereicht werden.
Wachstumsrisiken gefährden positiven Ausblick
Unsicherheit besteht weiterhin mit Blick auf EU-Mittel. Nach wie vor sind 10 Milliarden der 22 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds blockiert. Auch die Auszahlung der Ende 2023 freigegebenen 10 Milliarden Euro ist bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes ungewiss.
Aus dem EU-Wiederaufbaufonds können rund 10 Milliarden Euro bislang nicht ausgezahlt werden. Grund sind Verstöße Ungarns gegen Rechtsstaatsprinzipien. Die Europäische Kommission sieht europäische Grundrechte in Ungarn verletzt und prüft den unrechtmäßigen Einsatz von EU-Geldern.
Ohne großes mediales Aufsehen gab die Europäische Kommission im Februar allerdings 2 Milliarden Euro aus den Kohäsionsfonds frei. Wahrscheinlich dürften nach und nach weitere kleinere Tranchen fließen. Dass Ungarn alle zugesagten Gelder erhält, ist hingegen fraglich.
Bereits jetzt schränken fehlende EU-Mittel die Handlungsfähigkeit des ungarischen Staates erheblich ein. Im April musste die Regierung ihr Defizitziel für 2024 von 2,9 auf 4,5 Prozent des BIP anheben, Ausgaben von rund 1,75 Milliarden Euro wurden gestrichen. Experten rechnen damit, dass weitere Anpassungen folgen. Erwartet wird, dass die Regierung mit Steuererhöhungen auch auf der Einnahmenseite gegengesteuert.
Für Privathaushalte und Unternehmen könnte das zusätzliche Belastungen bringen, die Inflation wieder anfeuern, die Konsumlaune und das Wachstum erneut ausbremsen. Die Anlageinvestitionen dürften damit auf verhaltenem Niveau bleiben.
Deutsche Perspektive: Schwache Nachfrage ist größtes Geschäftsrisiko
Etwas mehr als ein Viertel der ungarischen Exporte ging 2023 nach Deutschland, dem mit Abstand wichtigsten Handelspartner. Für deutsche Unternehmen im Land ist die schwache Nachfrage im In- und Ausland aktuell das größte Geschäftsrisiko. Das ist das Ergebnis der Frühjahrsumfrage der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer (AHK Ungarn). Dahinter folgt der angespannte Arbeitsmarkt. Gestiegene Arbeitskosten und der Mangel an Arbeitskräften belasten den Wirtschaftsstandort.
Dennoch ist die Bereitschaft, erneut in Ungarn zu investieren, bei deutschen Unternehmen im Land unverändert hoch: In der AHK-Umfrage machten diese Aussage 80 Prozent der Befragten. Diverse Projekte im Automobilsektor bestätigen das. Thyssenkrupp kündigte 2023 an, für knapp 60 Millionen Euro sein Werk in Jászfányszaru zu erweitern. Dort werden Rotoren für Elektromotoren produziert. ZF Chassis Modules Hungary plant Niederlassungen in Kecskemét und Debrecen, um für Mercedes und BMW Stoßdämpfer und Wellen zu fertigen. Der Hersteller für Kompletträder Schedl will mit Werken in Debrecen und Kecskemét 2025 auf den ungarischen Markt treten.
Weitere Informationen zu Ungarn finden Sie auf der GTAI-Länderseite.