Rechtsbericht | Argentinien | Wirtschaftsrecht
Die radikale Deregulierung der Wirtschaft in Argentinien
Die neue argentinische Regierung hat ein sogenanntes Mega-Dekret erlassen, das zur umfassendsten Reform der argentinischen Wirtschaftsgesetzgebung seit Jahrzehnten führen kann.
02.01.2024
Von Dr. Julio Pereira | Berlin
Am 21. Dezember 2023 hat der neu gewählte Präsident Argentiniens, Javier Milei, das dringende Notfalldekret (Decreto de Necesidad y Urgencia - DNU, Dekret 70/2023) betreffend die "Grundlagen für den Wiederaufbau der argentinischen Wirtschaft" (Bases para la Reconstrucción de la Economía Argentina) unterzeichnet. Es handelt sich um ein äußerst umfassendes Dekret, mit dem mehrere Gesetze aufgehoben und zahlreiche Vorschriften geändert werden, um die Wirtschaft zu deregulieren. Unter anderem sind tiefgreifende Änderungen des öffentlichen Rechts, des Arbeitsrechts und zahlreicher Vorschriften für Handel, Dienstleistungen und Industrie vorgesehen. Diese Änderungen hängen noch von einer Abstimmung durch das argentinische Parlament ab.
Die wichtigsten Aspekte des Dekrets und die möglichen Rechtsfolgen werden im Folgenden erläutert.
Was sind die Gründe und Ziele des Dekrets?
Argentinien befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise. In der Präambel des Dekrets wird die derzeitige Situation als "Krise im Endstadium" (crisis terminal) bezeichnet. Es sei zur Vermeidung einer "noch größeren und weitaus schwerwiegenderen Verschlechterung" erforderlich, die "staatlichen Hindernisse und Beschränkungen", die die Entwicklung der Wirtschaft behindern, unverzüglich zu beseitigen. Diese Hindernisse sind die Gesetze, die die neue Regierung mit dem Dekret aufheben will.
Das Dekret verfolgt drei Ziele (Art. 1 bis 3 DNU):
Erklärung des Notstands: Das Dekret erklärt den "öffentlichen Notstand" in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Fiskalwesen, Verwaltung, Sozialversicherung, Zollwesen, Gesundheit und Soziales bis zum 31. Dezember 2025;
Deregulierung der Wirtschaft: Es ist ausdrücklich eine "weitestgehende Deregulierung von Handel, Dienstleistungen und Industrie" in ganz Argentinien vorgesehen;
Stärkere Einbindung Argentiniens in den Welthandel: In dem Dekret heißt es auch, dass die Exekutive internationale Standards im Waren- und Dienstleistungsverkehr übernehmen wird. Der Mercosur wird namentlich erwähnt, ebenso wie WTO- und OECD-Empfehlungen.
Kann ein Dekret in Argentinien Gesetze aufheben?
Ja, die argentinische Verfassung (Constitución de la Nación Argentina - CNA) sieht die Möglichkeit vor, dass der Präsident der Republik ein Dekret über Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) erlässt. Das Verfahren ist jedoch komplex und muss vom Parlament genehmigt werden. Zusammenfassend handelt es sich bei dem DNU um ein Rechtsinstrument, das es dem Staatschef ermöglicht, unter "außergewöhnlichen Umständen" (circunstancias excepcionales) gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen (Art. 99 Abs. 3 CNA). Die Anwendung dieses Instruments ist jedoch in einigen Bereichen verboten, zum Beispiel in Steuer-, Wahl- und Strafsachen. Das DNU der neuen Regierung ist so umfassend, dass es sogar Gesetze mit steuerlichen Aspekten aufhebt. Dies könnte dazu führen, dass es vom Parlament oder den Gerichten für verfassungswidrig erklärt wird. Das Gesetz wurde jedoch vom Präsidenten des Landes erlassen und von allen Staatsministern gemeinsam unterzeichnet, wie es die Verfassung vorsieht.
Was sind die wichtigsten Maßnahmen des Dekrets?
Das Dekret enthält eine lange Liste von mehr als 300 Gesetzen, die die Regierung vollständig aufheben oder erheblich ändern will.
Unter den wichtigsten Gesetzen, die aufgehoben werden sollen, sind die folgenden für ausländische Unternehmen von besonderer Bedeutung: das Versorgungsgesetz, das nationale Beschaffungsgesetz, das Mietgesetz, das Bodengesetz, das Industrieförderungsgesetz, das Gesetz über das nationale Bergbausystem, das Handelsförderungsgesetz sowie die Vorschriften, die die Privatisierung von Unternehmen in Argentinien verhindern. Das Dekret sieht ausdrücklich vor, dass alle staatlichen Unternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt werden, damit sie anschließend privatisiert werden können (Art. 48 ff. DNU).
Unter den zu ändernden Gesetzen ist eine tiefgreifende Änderung des Arbeitsrechts, die die neue argentinische Regierung als "Modernisierung" bezeichnet. Rechtlich gesehen handelt es sich um eine radikale Reform des arbeitsrechtlichen Rahmens, die unter anderem die Verlängerung der Probezeit von drei auf acht Monate, Änderungen bei der Entlohnung der Arbeitnehmer sowie eine drastische Ausweitung der gesetzlichen Kündigungsgründe vorsieht (Art. 53 ff. DNU). Alle Änderungen zielen darauf ab, die Arbeitskosten für die im Lande tätigen Unternehmen zu senken.
Gültigkeit des Dekrets und mögliche Szenarien
Das Dekret wurde 8 Tage nach seiner Veröffentlichung im Amtsblatt gültig, also am 29. Dezember 2023. Um gültig zu bleiben, müssen der argentinische Senat und die Abgeordnetenkammer jedoch zunächst das Dekret annehmen. Keine der beiden gesetzgebenden Kammern kann den Text des Dekrets ändern, neue Artikel hinzufügen oder Teile des ursprünglichen Textes herausnehmen. Das Dekret wird in seiner Gesamtheit geprüft und kann vom Parlament abgelehnt oder angenommen werden.
Die endgültige Entscheidung über die Gültigkeit des Dekrets wird von der absoluten Mehrheit der Parlamentarier (die Hälfte plus eins) zu einem noch nicht festgelegten Zeitpunkt im Januar 2024 getroffen. Aus rechtlicher Sicht gibt es drei mögliche Szenarien:
Wenn keine der beiden Parlamentskammern das Dekret ablehnt, bleibt es in Kraft;
Wenn nur eine der Parlamentskammern ihn annimmt und die andere ihn ablehnt, bleibt das Dekret ebenfalls in Kraft;
Wenn beide Parlamentskammern ihn ablehnen, wird das Dekret außer Kraft gesetzt.
Volksbefragung
Für den Fall einer Ablehnung durch beide Parlamentskammern hat der neue argentinische Präsident bereits angekündigt, dass er eine Volksabstimmung zur Umsetzung des Dekrets durchführen wird. Diese Lösung ist jedoch verfassungswidrig (Art. 40 CNA). Verbindliche Volksabstimmung hängt in Argentinien nämlich nicht vom persönlichen Willen des Präsidenten der Republik ab. Sie fällt in die Zuständigkeit des Parlaments.
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