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Rail Baltica geht in die Bauphase
Estland veröffentlicht für die Rail Baltica Ausschreibungen in Milliardenhöhe. Für das Schienenprojekt ist deutsches Know-how gefragt. Doch die Finanzierung ist noch offen.
13.11.2024
Von Niklas Becker, Christopher Fuß | Helsinki, Warschau
Das europäische Schieneninfrastrukturprojekt Rail Baltica geht in die nächste Phase. "Wir sind im Übergang von der Planungs- zur Bauphase. In Lettland ist der Baubeginn für den wichtigsten Abschnitt der Hauptstrecke – das südliche Teilstück bis zur litauischen Grenze – bereits für die nächste Bausaison vorgesehen", berichtet Kristine Malnaca, die für Rail Baltica zuständige stellvertretende Staatssekretärin im lettischen Verkehrsministerium, im Gespräch mit Germany Trade & Invest. In allen drei baltischen Ländern habe die Bauphase begonnen.
Rund 15 Prozent der Hauptstrecke befinden sich derzeit in der Bauphase. Der Anteil soll zeitnah steigen. Alle Informationen über aktuelle Ausschreibungen des Projekts werden auf der Internetseite Rail Balitica veröffentlicht. Dort findet sich auch eine Übersicht der geplanten Ausschreibungen.
Das Rail Baltica Projekt zählt zu den größten Verkehrsinfrastrukturvorhaben der EU. Estland, Lettland und Litauen sollen an Polen und damit an das westeuropäische Schienennetz angebunden werden. Die Gesamtstrecke beläuft sich auf 909 Kilometer und wird neu gebaut. Die bisherigen Schienennetze in den drei Ländern haben die sogenannte Breitspur. Das Rail Baltica Schienennetz wird jedoch in der in Europa üblichen Normalspur gebaut. Die Fahrt von Vilnius nach Tallinn soll dann nur noch 3 Stunden und 38 Minuten dauern. Derzeit dauert die Fahrt zwischen 10 und 13 Stunden und ist mit mehreren Umstiegen verbunden.
Deutsches Know-how gefragt
"Wir haben beschlossen, den größten Teil des Baus der Rail Baltica-Hauptstrecke in größeren Ausschreibungen zu veröffentlichten, damit es für internationale Unternehmen attraktiver und einfacher wird, sich zu beteiligen. Wir brauchen die Erfahrung und die Referenzen europäischer Unternehmen, da es in Estland an bestimmten Fachkenntnissen im Zusammenhang mit dem Bau von Eisenbahnstrecken mit europäischer Spurweite mangelt“, sagt Priit Pruul, Leiter der Kommunikationsabteilung von Rail Baltica Estonia. "Derzeit gibt es viel Interesse aus Frankreich. Wir würden uns freuen, wenn sich auch mehr deutsche Unternehmen an den Ausschreibungen von Rail Baltica beteiligen würden", ergänzt Pruul.
Udo Sauerbrey, Managing Director beim deutschen Unternehmen Railistics, stimmt Pruul zu. "In den drei Ländern gibt es einen großen Bedarf an Expertise aus dem Ausland. Das bestehende Schienennetz in der Region ist auf Grundlage von sowjetischen Verbindungen entstanden. Es gibt in den Ländern daher wenig Know-how für die europäische Spurweite und die europäischen Richtlinien."
Chancen für deutsche Unternehmen bietet das Projekt laut Staatssekretärin Malnaca nicht nur Bauunternehmen: "Zwar ist die Planungsphase für einige Abschnitte erfolgreich abgeschlossen, für andere hat sie allerdings noch nicht einmal begonnen. Wir brauchen also weiterhin Planungsunternehmen. Auch der Bereich Überwachung wird noch Beteiligungsmöglichkeiten bieten."
Eine Reihe von deutschen Unternehmen hat sich bereits erfolgreich am Rail Baltica Projekt beteiligt. Anfang 2024 hatte das Projekt bereits Verträge im Gesamtwert von mehr als 85 Millionen Euro mit deutschen Firmen unterschrieben. Unter ihnen DB Engineering & Consulting, Obermeyer Planen + Beraten, TÜV Süd und Railistics.
RB Rail ist Hauptkoordinator des Projektes
Hauptkoordinator des Rail Baltica Projekts ist das in Riga sitzende Unternehmen RB Rail. Es ist ein 2014 gegründetes Joint Venture des estnischen Ministeriums für Klima, des lettischen Ministeriums für Verkehr und des litauischen Ministeriums für Verkehr und Kommunikation. Ausgeführt wird das Projekt von den drei nationalen Durchführungsstellen: Rail Baltic Estonia in Estland, Eiropas Dzelzceļa līnijas in Lettland sowie Rail Baltica statyba und LTG Infra in Litauen. Alle von den nationalen Durchführungsstellen realisierten Bauarbeiten erfolgen unter der Aufsicht des Joint Ventures RB Rail.
Auch Polen treibt die Rail Baltica weiter voran. Der staatliche Betreiber des Schienennetzes PKP PLK will noch 2024 eine neue Ausschreibung für die Modernisierung der Strecke zwischen den Städten Białystok und Ełk veröffentlichen. Voraussichtlich 2025 soll die Ausschreibung für den Abschnitt von Ełk bis zur Grenze mit Litauen folgen.
Kosten der Rail Baltica fast vervierfacht
Eine Herausforderung für das Projekt sind die stark gestiegenen Kosten. Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group hat im Frühjahr 2024 eine neue wirtschaftliche Bewertung und Kosten-Nutzen-Analyse veröffentlicht. Der Bericht beziffert die Investitionsausgaben, die Capital Expenditures, für das Gesamtprojekt auf 23,8 Milliarden Euro.
Im Jahr 2017 waren noch 5,8 Milliarden Euro für das gesamte Projekt angesetzt. "Dieser Betrag basierte auf verfrühten Schätzungen der technischen Aspekte des Projekts und war viel zu niedrig angesetzt", sagt Kitija Gruškevica, Mitglied des Vorstandes von RB Rail. Sie ergänzt: "Wir sind nicht überrascht über die neue Schätzung von 23,8 Milliarden Euro. Die Kosten des Rail Baltica-Projekts entsprechen dem Durchschnitt anderer europäischer Eisenbahnprojekte. Zudem zeigt die Studie, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen die erforderlichen Investitionen um die Hälfte übersteigen werden. Die direkten und indirekten wirtschaftlichen Effekte werden auf 48 Milliarden Euro beziffert."
Estland | Lettland | Litauen | Insgesamt | |
---|---|---|---|---|
Geplante Kosten (in Milliarden Euro, 2023) | 4,0 | 9,6 | 10,2 | 23,8 |
Geplante Routenlänge (in Kilometer, 2022) | 214 | 263 | 432 | 909 |
Finanzierung bleibt ungewiss
Das große Fragezeichen hinter dem Rail Baltica-Projekt bleibt die Finanzierung. Das Projekt ist auf europäische Fördergelder angewiesen. Bis November 2024 hat das Vorhaben Mittel in Höhe von rund 4 Milliarden Euro gesichert. Etwa 85 Prozent kommen aus der EU-Fazilität Connecting Europe (CEF). Die verbleibenden 15 Prozent steuern die nationalen Budgets bei. Die zukünftige Finanzierung ist jedoch alles andere als gesichert. Das Projekt muss jedes Jahr neue CEF-Gelder beantragen. Eine Garantie für die Bewilligung gibt es nicht.
Aufgrund der neuen Kostenschätzung sucht Rail Baltica alternative Finanzierungsmöglichkeiten. "Es gibt eine politische Debatte über die Bereitstellung von weiteren Fördergeldern. Doch EU-Mittel können nicht die einzige Finanzierungsquelle sein. Eine neue mögliche Option sind öffentliche-private Partnerschaften. Wir diskutieren derzeit, wie wir die Türen für private Investoren öffnen können. Das ist jedoch ein ganz neues Thema für dieses Projekt, weshalb erst einige Fragen beantwortet werden müssen", sagt Gruškevica.
Der Zeitdruck steigt
Ursprünglich sollte das Projekt 2026 fertiggestellt werden. Dass das nicht einzuhalten ist, ist bereits lange klar. Das neue Zieldatum für die grenzüberschreitenden Verbindungen ist 2030. Es ist auch gleichzeitig die von der EU vorgegebene Frist für die Fertigstellung des Kernnetzes des sogenannten Transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-V). Rail Baltica ist ein Teil davon.
Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Verantwortlichen 2023 die Entscheidung getroffen, das Projekt in zwei Phasen zu teilen. Dadurch soll es gelingen, 2030 eine durchgehende Strecke in Betrieb zu nehmen. In der ersten Phase soll größtenteils nur eine einspurige Strecke verlegt werden. Die Untergrundarbeiten werden jedoch direkt für eine zweigleisige Strecke vorbereitet, sodass in der zweiten Phase das zweite Gleis einfacher verlegt werden kann.
In der ersten Phase fokussiert sich das Projekt auf die sogenannten Hauptstrecke. Dies ist unter anderem eine Forderung der Europäischen Kommission. Weitere Anbindungen - wie beispielsweise der sogenannte Riga Loup - sollen in der zweiten Phase kommen. Laut Boston Consulting Group werden für die erste Projektphase 15,3 Milliarden und für die zweite 8,5 Milliarden Euro benötigt.
"Rail Baltica ist die große Chance für Estland, Lettland und Litauen"
Udo Sauerbrey ist Gründer und seit 2001 Geschäftsführer bei Railistics. Das auf Beratungs- und Ingenieurdienstleistungen im Eisenbahnwesen spezialisierte deutsche Unternehmen hat bereits Projekte für Rail Baltica durchgeführt.
Inwiefern sind Sie an Rail Baltica beteiligt?
Im Prinzip haben wir der Rail Baltica beim Einzug in die ersten Büros geholfen. Wir haben seit Anfang an Projekte für das Vorhaben durchgeführt. Das größte war der erste Business Plan im Jahr 2018.
Der Nutzen von Rail Baltica wird unter anderem aufgrund der stark gestiegenen Kosten immer wieder hinterfragt. Wie schätzen Sie das ein?
Es ist natürlich ein sehr teures Projekt. Ich sehe den Nutzen aber weiterhin. Und das jetzt erst recht, weil der logistische Ost-West-Fokus für die baltischen Länder durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine weggefallen ist. Das war für die nationalen Logistikbranchen, wie beispielweise die Häfen, die Lebensader. Rail Baltica ist die große Chance für die drei Länder. Die Straßen sind sehr voll. Der Straßengüterverkehr hat an vielen Stellen seine Kapazitätsgrenzen erreicht. Deshalb braucht es die neue Schienenverbindung.
Könnten die bestehenden Verbindungen diese Aufgaben übernehmen?
Die bestehenden Verbindungen sind nicht auf Nord-Süd-Verkehr ausgerichtet. Zudem handelt es sich um Schienennetze mit Breitspur, die nicht mit dem Rest der EU-Länder verbunden ist. Der Handel aus beziehungsweise ins Baltikum kann daher nicht auf der Schiene abgewickelt werden. Es gibt zwar die Rail Baltica 1, die das polnische Białystok mit dem litauischen Kaunas verbindet. Die Strecke ist jedoch einspurig und nicht elektrifiziert. Sie ist ein echtes Nadelöhr.
Welche Herausforderungen sehen Sie für das Projekt?
Die größte Herausforderung ist die Finanzierung. Hinzu kommt, dass der Nutzen des Projekts erst eintritt, wenn das Projekt fertiggestellt wird. Die Kosten müssen schon heute getragen werden. In der Vergangenheit schien es so, dass die baltischen Länder nicht immer 100-Prozentig hinter dem Projekt standen. Das hat sich mit dem Krieg gegen die Ukraine geändert. Rail Baltica hat in der Region deutlich an Bedeutung gewonnen.
Gibt es spezielle Herausforderungen für deutsche Firmen?
Die Ausschreibungen sind sehr kompliziert und umfangreich. Es greift das jeweilige nationale Ausschreibungsrecht. Es werden sehr detaillierte Nachweise gefordert, was für baltische Firmen nichts Neues bedeutet. Für deutsche Unternehmen ist das neu und ein sehr großer Aufwand.