Rechtsbericht | Brasilien | Verfassungsrecht
Der rechtliche Kampf gegen Desinformation in Brasilien
Die Debatte über Fake News erreicht das Oberste Gericht, setzt den Nationalkongress unter Druck und beeinträchtigt das Geschäftsumfeld.
13.02.2025
Von Dr. Julio Pereira | Berlin
2025 wird für die Regulierung von Desinformation in Brasilien entscheidend sein. Der brasilianische Bundesgerichtshof (Supremo Tribunal Federal - STF) hat eine solide Rechtsprechung gefestigt, um digitale Plattformen für die von Nutzern veröffentlichten Inhalte verantwortlich zu machen. Der Nationalkongress steht unter Druck und muss ein Gesetz verabschieden, um das Vakuum in dem Bereich zu füllen. Solche Änderungen sind entscheidend, um ein sicheres und zuverlässiges digitales Umfeld auch für Unternehmen zu gewährleisten. Soziale Netzwerke werden als Kommunikationsmittel mit Verbrauchern und als Kanal für den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen genutzt.
Rechtsinstrumente gegen Fake News
Derzeit gibt es in Brasilien noch kein spezifisches Gesetz, das auf die Bekämpfung von Desinformation abzielt. Allerdings befassen sich fünf grundlegende Rechtsinstrumente mit Aspekten des Themas:
Die Bundesverfassung von 1988 (Constituição Federal - CF/88) sichert das Recht auf Information (Art. 5 XIV) und verbietet die Anonymität (Art. 5 IV). Die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969, die Brasilien durch das Gesetzesdekret Nr. 27/1992 ratifiziert hat, sieht Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Artikel 13) in Fällen von Hassreden, Kriegspropaganda und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor. Der Bürgerrechtsrahmen für das Internet (Marco Civil da Internet - MCI) legt allgemeine Regeln für die Internetnutzung in Brasilien fest. Das Datenschutzgesetz (Lei Geral de Proteção de Dados - LGPD) schützt die Privatsphäre der Bürger. Und der Beschluss Nr. 742/2021 des Bundesgerichtshofs führt ein Programm zur Bekämpfung von Desinformation (Programa de Combate à Desinformação - PCD) ein.
In Anbetracht der Normenhierarchie im brasilianischen Recht müssen diese Rechtsinstrumente in genau der oben genannten Reihenfolge gerichtlich angewendet werden.
Welche Rolle spielt der STF?
Der STF ist das oberste Gericht im brasilianischen Justizsystem. Er ist für alle verfassungsrechtlichen Fragen zuständig, darunter auch für das Recht auf Information – das ein Grundrecht im Land ist. Bisher kompensiert die solide Rechtsprechung des STF das Fehlen eines spezifischen Gesetzes zum Thema Desinformation. In diesem Zusammenhang hat die Judikative eine zentrale Rolle in der Debatte eingenommen.
Einer der Kernpunkte in der Diskussion ist Art. 19 des MCI. Dieser Artikel besagt, dass digitale Plattformen für illegale Inhalte, die von Nutzern veröffentlicht werden, nur nach einem Gerichtsurteil zur Verantwortung gezogen werden können. Umstritten ist allerdings die Verfassungsmäßigkeit der Regelung. Zwei emblematische Fälle liegen derzeit dem SFT vor: eine Klage von Facebook (RE 1037396) und eine weitere von Google (RE 1057258). Diese Klagen stellen jeweils die folgenden Punkte in Frage:
- die Haftung von Plattformen für Schäden, die durch Desinformation entstehen;
- die Verpflichtung zur Entfernung solcher Inhalte, ohne dass eine gerichtliche Anordnung erforderlich ist.
Sollte Art. 19 des MCI für verfassungswidrig befunden werden, würde dies das System der Inhaltsmoderation in Brasilien völlig neu definieren und hätte tiefgreifende Auswirkungen auf das Handeln der großen Technologieunternehmen (Big Tech) und die gesamte virtuelle Umwelt.
Derzeit setzt der STF sein eigenes Programm zur Bekämpfung von Desinformation ein, um Angriffe auf die Justiz abzuwehren. Wenn Fake News in sozialen Netzwerken als Tatsachen verbreitet werden und eine große Reichweite erreichen, wird die digitale Plattform benachrichtigt, um sie aus dem Netz zu ziehen. Dies geschieht wie folgt:
Der Fall X
Eine der bedeutendsten Episoden im rechtlichen Kampf gegen Desinformation in Brasilien war die Sperrung der Plattform X (früher Twitter). Der Fall ist zu einem Meilenstein in der brasilianischen Rechtsprechung geworden. Die Entscheidung des STF bekräftigt die Souveränität des nationalen Rechts und macht gleichzeitig die Schwierigkeiten bei der Kontrolle der Big Techs deutlich.
Zwischen dem 31. August und dem 8. Oktober 2024 war die Plattform X in ganz Brasilien offline. Grund dafür: die kontinuierliche Verweigerungshaltung von X gegenüber gerichtlichen Anordnungen des STF.
Im Rahmen eines Strafverfahrens (INQ 4874) hatte der Gerichtshof X angewiesen, die Profile von Nutzern zu sperren, die vor der brasilianischen Justiz auf der Flucht waren und weiterhin Desinformationen über die Plattform verbreiteten. Mit der Begründung der Meinungsfreiheit hat X dies verweigert. Zudem beschloss das Unternehmen, sein Büro in Brasilien zu schließen. Ohne eine Niederlassung im Land hat X für sich selbst ein „unüberwindbares Hindernis“ für die weitere Erbringung von Dienstleistungen in Brasilien geschaffen, so die Entscheidung des STF, die die Sperrung anordnete (Pet 12.404). Das Fehlen rechtlicher Vertretungen eines ausländischen Unternehmens verstößt gegen das brasilianische Gesellschaftsrecht. Infolgedessen durfte X seine Tätigkeit in Brasilien erst wieder aufnehmen, nachdem es allen Anordnungen des STF nachgekommen war.
Prognose für 2025
Brasilien nähert sich der unvermeidlichen Regulierung der digitalen Plattformen.
Der erste Schritt wird das Gerichtsurteil des STF zu Art. 19 des MCI sein. Die Tendenz geht dahin, dass dieser Artikel zumindest teilweise für verfassungswidrig erklärt wird, da vier der elf Richter des STF bereits in diese Richtung geurteilt haben. Die endgültige Abstimmung wird voraussichtlich ab März 2025 fortgesetzt. Das Urteil wird die Wirkung eines „relevanten Sachverhalts“ (repercussão geral) haben. Das bedeutet, dass die Entscheidung nicht nur für die Parteien der beiden Klagen (Facebook und Google) gilt, sondern als verbindliche Referenz für alle ähnlichen Fälle vor einem brasilianischen Gericht.
Der zweite Schritt wird darin bestehen, entweder alle brasilianischen Gesetze anzupassen, um Vorschriften zur Desinformation aufzunehmen, oder ein neues Gesetz zu verabschieden. Am weitesten fortgeschritten ist der Gesetzentwurf 2630/2020, der bereits im Senat angenommen wurde. Allerdings stößt er in der Abgeordnetenkammer auf Widerstand. Sollte dieser Gesetzentwurf nicht angenommen werden, muss ein anderer Gesetzentwurf zur Debatte kommen, der die durch die künftige Entscheidung des STF gesetzten Grenzen einhält – da sie die Kraft einer Verfassungsnorm haben wird.
Zum Thema:
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