Interview | Finnland, Estland, Lettland, Litauen | Beschaffung
"Joint Ventures sind für deutsche Firmen häufiger eine Option"
Zulieferer aus Estland, Lettland und Litauen spielen eine wichtige Rolle für deutsche Firmen. Es gibt aber noch viel Potenzial, sagt ein Vertreter der deutschen Wirtschaft vor Ort.
14.03.2025
Von Niklas Becker | Helsinki

Dominic Otto ist seit mehr als 17 Jahren beruflich in Estland, Lettland und Litauen tätig. Seit mehr als fünf Jahren arbeitet er als stellvertretender Geschäftsführer der Deutsch-Baltischen Industrie und Handelskammer (AHK Baltikum). Im Gespräch mit GTAI berichtet er über die Möglichkeiten für deutsche Unternehmen, Waren und Dienstleistungen aus Estland, Lettland und Litauen zu beziehen.
Herr Otto, sind die Beschaffungsmärkte in Estland, Lettland und Litauen für deutsche Firmen ein neues Thema, das besonders durch die Coronakrise an Bedeutung gewonnen hat?
Nein, das würde ich nicht sagen. Die Verlagerung von Lieferketten ins Baltikum hat während der Coronazeit natürlich sehr große Aufmerksamkeit bekommen. Aber auch in den Jahren zuvor hat das Thema in Estland, Lettland und Litauen eine große Rolle gespielt. Schon vor 2020 hatten wir eine Reihe von Anfragen deutscher Unternehmen zur Lieferantensuche in Estland, Lettland und Litauen.
Tatsächlich ist die Zahl der Anfragen im Winter 2024/2025 in diesem Bereich niedriger als sonst. Das ist meiner Meinung nach auf die aktuelle wirtschaftliche Situation zurückzuführen. Ich gehe aber davon aus, dass wir wieder mehr Anfragen aus Deutschland bekommen werden, wenn sich die Wirtschaft wieder besser entwickelt und die deutschen Firmen wieder mehr Zulieferer brauchen.
Hat sich bei den Anfragen in den vergangenen Jahren etwas verändert?
Ein Trend ist das Thema Joint Ventures. Immer häufiger wollen deutsche Unternehmen nicht nur eine klassische Kunden-Lieferanten-Beziehung mit den baltischen Unternehmen aufbauen. Stattdessen sind sie an einer intensiveren strategischeren Kooperation oder sogar Beteiligung an den estnischen, lettischen und litauischen Unternehmen interessiert. Dadurch wollen sie sich ihre Lieferbeziehung langfristig sichern.
Wird das in den Ländern kritisch gesehen?
Nein, ganz im Gegenteil. Estland, Lettland und Litauen sind stark an engeren Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland interessiert. Seitens der Politik werden dabei beispielsweise auch immer wieder Joint Ventures als eine Möglichkeit der intensiveren Zusammenarbeit genannt.
Was sind die Motive deutscher Unternehmen, die sich für Estland, Lettland und Litauen als Beschaffungsmarkt interessieren?
Ein Argument, das wir immer wieder hören, ist, dass Unternehmen ihre Lieferketten sicherer machen und verkürzen wollen. Sie wollen ihre Lieferketten näher vor die Haustür holen. Und da stehen Estland, Lettland und Litauen hoch im Kurs. Das betrifft übrigens nicht nur den reinen Zuliefererbereich. Eine Reihe von baltischen Unternehmen sind auch als Auftragsfertiger für deutsche Firmen tätig.
Geht es den deutschen Firmen darum ein zweites Standbein ihrer Lieferkette aufzubauen oder ersetzen sie mit baltischen Zulieferern Firmen aus anderen Ländern?
Häufig hören wir, dass die deutschen Unternehmen tatsächlich Lieferanten aus anderen Ländern ersetzen wollen.
Welche Unterschiede gibt es bei der Beschaffung aus Estland, Lettland und Litauen im Vergleich zu anderen Ländern?
Die Arbeitskosten sind in Estland, Lettland und Litauen zwar immer noch merklich niedriger als in Deutschland, mit den Kosten im asiatischen Raum können die Balten aber nicht mithalten. Deutsche Unternehmen sollten nicht davon ausgehen, dass sie Produkte, die sie zuvor beispielsweise aus China bezogen haben, zu den gleichen Preisen aus den baltischen Staaten erhalten können.
Hinzu kommt, dass sich Estland, Lettland und Litauen in den vergangenen Jahren wirtschaftlich enorm entwickelt haben und die Löhne deshalb steigen. Das muss man natürlich berücksichtigen. Für deutsche Unternehmen sind die drei Länder aber weiterhin sehr attraktive Beschaffungsmärkte.
Weil?
Beispielsweise weil die baltischen Firmen sehr flexibel sind. Es sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen, die als Zulieferer für deutsche Firmen infrage kommen. Sie sind erfahrungsgemäß sehr flexibel und können sich den Bedürfnissen der Kunden anpassen. Deutsche Unternehmen beschaffen vor allem Waren in kleineren Mengen aus Estland, Lettland und Litauen. Genau da sehe ich auch die große Stärke der drei Zulieferindustrien, weil sie von heute auf morgen ihre Produktion umstellen und an die Bedürfnisse der deutschen Kunden anpassen können.
Welche weiteren Stärken sprechen für die baltischen Zulieferer?
Ein weiterer Pluspunkt ist die hohe Qualität. Die Ausbildungssysteme in Estland, Lettland und Litauen sind gut, sodass es viele gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Diese Rückmeldung bekommen wir auch immer wieder in Gesprächen mit deutschen Firmen. Und natürlich sind alle drei Länder EU-Mitglieder. Sämtliche EU-Normen werden eingehalten und es gibt keine Zollproblematik. Darüber hinaus sind die Transportwege aus der Region sowohl per Straße als auch per See deutlich kürzer als aus Asien.
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