Wirtschaftsumfeld | Japan | Demografischer Wandel
Demografie ist Bewährungsprobe für die japanische Wirtschaft
Japans ergrauende Bevölkerung stellt das Land vor immense Aufgaben: Es droht der Kollaps der Sozialsysteme. Um den Archipel fit für die Zukunft zu machen, braucht es neue Wege.
25.07.2023
Von Christiane Süßel | Bonn
Japans Warnlampen sprangen 2022 an: Die Zahl der Geburten unter der einheimischen Bevölkerung fiel im Mai 2022 das erste Mal auf 12-Monats-Basis unter die Marke von 800.000 Neugeborenen. Das Tokioter National Institute of Population and Social Security Research (IPSS) war bislang davon ausgegangen, dass diese Marke erst im Jahr 2030 unterschritten wird. Das Schrumpfen und zeitgleiche Altern der japanischen Gesellschaft bremst das Wachstum aus. Um zu bestehen, müssen sich auch Unternehmen dem demografischen Wandel anpassen.
Premierminister Fumio Kishida leistete im Januar 2023 einen Offenbarungseid: "Die niedrigen Geburtenraten bedrohen Japans Fähigkeit, soziale Einrichtungen aufrechtzuerhalten." Daher hat er die Unterstützung der Kindererziehung "zur wichtigsten politischen Aufgabe" erklärt und die Verdopplung der Ausgaben für Kinder in Aussicht gestellt.
Weniger Geburten, mehr Hochbetagte
Das Problem ist nicht neu, aber gravierend. In Japan wurden bereits 2005 erstmals weniger Menschen geboren als starben. Seither schrumpft die Bevölkerung mit zunehmendem Tempo. Zum Jahresbeginn 2023 lag die Einwohnerzahl des Archipels bei 124,8 Millionen Menschen. Bis zum Jahr 2045 wird die Bevölkerung um 9,7 Prozent und bis 2070 sogar um 13,1 Prozent schrumpfen, so die jüngsten Szenarien des IPSS. Gebremst wird der Bevölkerungsschwund nur von einer steigenden Lebenserwartung und einer positiven Netto-Migration. Immerhin: Die neuste Prognose geht davon aus, dass Japans Bevölkerung nicht schon 2053 sondern erst drei Jahre später unter die 100-Millionen-Einwohner-Marke fallen wird. 2070 wird Japan allerdings nur noch 87 Millionen Einwohner zählen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf den Staat sondern auch auf die Unternehmen.
Japans Geburtenrate gehört zu den niedrigsten weltweit und lag 2021 bei 1,3 Kindern pro Frau. Der anhaltende Geburtenrückgang befeuert die Schrumpfungsdynamik. Dabei sind die Gründe für den Verzicht auf Nachwuchs bekannt: Die Ausbildung der Kinder ist zu teuer, außerdem lassen sich Familie und Beruf nicht vereinbaren.
Parallel zu den rückläufigen Geburten werden die Menschen auf dem Archipel immer älter. Schon jetzt sind knapp 29 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre. Die Lebenserwartung für Frauen lag 2020 bei 87,7 Jahren und für Männer bei 81,6 Jahren. Dabei wächst die Zahl der Hochbetagten: 2021 waren 85.000 Menschen älter als Hundert.
Society 5.0 und Silver Market
Brisant ist, dass mit zunehmendem Alter die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Japan setzt im Pflegebereich neben dem Einsatz ausländischer Pflegekräfte auf die Digitalisierung. Ziel der 2017 ausgerufenen Society 5.0 ist es, verstärkt digitale Lösungen in der Pflege zu suchen. Neben dem Einsatz von Pflegerobotern sollen Ärzte Patienten von der Ferne aus therapieren.
Dabei bietet die ergraute Gesellschaft auch Geschäftschancen. So ist das Einkommen der Älteren zwar geringer als das der Erwerbsbevölkerung. Zugleich haben die Über-65-Jährigen jedoch die höchsten Sparguthaben. Die Generation der Babyboomer, also die Jahrgänge 1947 bis 1949, setzt sich sukzessive zur Ruhe. Sie gilt als sehr wohlhabend, aktiv und konsumfreudig. Auf sie zugeschnittene Produkte und Dienstleistungen werden mit dem Label "Silver Market" vermarktet. Medizinprodukte, seniorengerechte Apparate und Services sind rege nachgefragt.
Bürde für den Sozialstaat
Die alternde Gesellschaft ist Sprengstoff für die Sozialsysteme: Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) machten die Rentenzahlungen 2020 einen Anteil von 9,7 Prozent am japanischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus. Damit rangiert Japan über dem OECD-Durchschnitt von 7,9 Prozent.
Die Zunahme der Älteren verändert nicht zuletzt auch den Arbeitsmarkt. Standen 2021 noch 100 Arbeitenden 53 Rentner im Alter von mehr als 65 Jahren gegenüber, so werden es bis 2075 schon 75 Rentner sein. Eine sinkende Erwerbsbevölkerung bremst das potenzielle Wirtschaftswachstum. Japan kämpft bereits seit Jahren mit geringen BIP-Wachstumszahlen.
Je stärker sich das Wirtschaftswachstum erholt, umso weiter wird die ohnehin niedrige Arbeitslosenquote fallen und den bereits spürbaren Fachkräftemangel weiter anfachen, mahnt das Japan Research Institute. So könnte die Arbeitslosenquote 2024 unter 2 Prozent fallen.
Arbeitsmigration als Notnagel
Um die sinkende Erwerbstätigenzahl abzufedern und die Arbeitseffizienz zu steigern, fördert die Regierung den Einsatz von Maschinen und Robotertechnik. Zugleich soll die Erwerbsquote von Älteren und Frauen wachsen. Weniger populär ist bislang die aktive Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften. Im Jahr 2021 gab es 2,8 Millionen Ausländer auf dem Archipel. Sie finden sich verstärkt in befristeten oder nicht-regulären Jobs wieder und haben kaum eine Bleibeperspektive. Premier Kishida will es künftig ausländischen Arbeitskräften leichter machen, in Japan feste Stellen zu besetzen. Experten sagen, dass sich der Inselstaat darauf einstellen muss, dass Ausländer in nicht ferner Zukunft 10 Prozent der Bevölkerung stellen.
Landkarte einer ergrauten Gesellschaft
Die Alterung der Gesellschaft verändert die Landkarte Japans. Während die Metropolen Tokyo und Osaka immer mehr Menschen anziehen, steigt in entlegeneren Gebieten der Anteil der Über-65-Jährigen überproportional. Die Landflucht gepaart mit den eingebrochenen Geburtenraten hat dazu geführt, dass auf dem Land Millionen von Gebäuden leer stehen. Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und öffentlicher Transport sind in diesen Regionen Mangelware. Dies verstärkt wiederum den Wegzug: ein Teufelskreis.
Dabei stellen die rückläufigen Geburtenraten auch die Hauptstadt vor Probleme: So hat die Präfektur Tokyo ein 1,65 Billionen Yen (12,7 Milliarden US$) schweres Paket geschnürt, dass es attraktiver machen soll, Kinder zu bekommen. Im Fiskaljahr 2023 will die Stadtregierung ein monatliches Kindergeld für Kinder bis zu 18 Jahren zahlen. Auf der Förderliste stehen auch Hilfen für Fruchtbarkeitsbehandlungen.