Wirtschaftsumfeld | China | Demografischer Wandel
Alterung der Gesellschaft wird in China zur Wachstumsbremse
Ende 2021 lebten bereits mehr als 200 Millionen über 65-Jährige im Reich der Mitte. Bis 2050 könnte die Zahl auf 400 Millionen steigen – mit drastischen Folgen für die Wirtschaft.
15.11.2022
Von Christina Otte | Bonn
China ist bei weitem kein Einzelphänomen – mehr als 100 Länder weltweit befinden sich im Prozess des demografischen Wandels. Aber in der Volksrepublik geschieht dies schneller als im Durchschnitt der Mitgliedsländer der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development). Dabei gelten die meisten OECD-Mitglieder, darunter Deutschland, als entwickelte Volkswirtschaften und weisen ebenfalls alternde Gesellschaften auf.
Ende 2021 waren nach Angaben des nationalen Statistikamtes NBS (National Bureau of Statistics) bereits 201 Millionen Menschen im Reich der Mitte und damit 14,2 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter. Schon 2050 könnte es ein Drittel sein, so das World Economic Forum. Die Auswirkungen sind umfangreich, sowohl auf den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem als auch auf die Konsumgewohnheiten.
Ein-Kind-Politik verschärft das Problem
Ursache für die rasante Entwicklung ist nicht nur die längere Lebenserwartung, die mit dem wirtschaftlichen Wohlstand des Landes einhergeht. Vor allem die Ein-Kind-Politik hat einen signifikanten Anteil. Die Maßnahme diente ab 1979 dazu, das damals explodierende Bevölkerungswachstum einzudämmen – mit Erfolg. Erst spät steuerte die Regierung um, lockerte die Politik und erlaubte Familien 2016 zunächst zwei Kinder und seit 2021 drei Kinder.
Doch Experten gehen davon aus, dass auch die Drei-Kind-Politik den demografischen Wandel nicht aufhalten kann. Viele jüngere Leute wollen entweder keinen Nachwuchs oder nach wie vor nicht mehr als ein Kind großziehen. Die finanziellen Belastungen seien zu hoch. Denn anders als in Deutschland kostet die Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern in China unweit mehr Geld. Außerdem gibt es für Familien im Reich der Mitte bisher wenig finanzielle Unterstützung.
Chinas Fertilitätsrate sank nach NBS-Angaben 2021 auf 1,13 Geburten pro Frau und ist damit niedriger als der OECD-Durchschnitt. Längst ist das Problem auf oberster politischer Ebene angekommen. "Wir werden ein politisches System zur Steigerung der Geburtenraten einrichten und eine proaktive nationale Strategie als Reaktion auf die Bevölkerungsalterung verfolgen", verkündete Präsident Xi Jinping auf dem 20. Nationalen Parteikongress der Kommunistischen Partei im Oktober 2022 in Beijing. Doch etwaige Maßnahmen bleiben bisher vage.
China entkommt nicht der mittleren Einkommensfalle
Das Reich der Mitte altert, bevor es reich wird. Beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf bewegt sich die Volksrepublik im weltweiten Mittelfeld auf dem Niveau von Costa Rica oder Bulgarien. Gleichzeitig nehmen die BIP-Wachstumsraten seit 2010 stetig ab. Für das Jahr 2022 rechnet der Internationale Währungsfonds mit lediglich 3,2 Prozent. Mindestens 5 Prozent pro Jahr seien aber nötig, damit die Kommunistische Partei ihr Ziel erreicht, bis 2035 das BIP pro Kopf auf Basis des Niveaus von 2020 zu verdoppeln, so Yao Yang, Dekan der National School of Development der Peking University im Interview mit China Daily.
"Nach aktuellen Maßstäben dürfte Chinas BIP je Einwohner bis 2035 mit 24.000 bis 25.000 US-Dollar etwa das Niveau der Länder mit mittlerem Einkommen erreichen", meint Yao. Ein auf der China International Import Expo (CIIE) im November 2022 vorgestellter Bericht stellt einen konkreten Zusammenhang her zwischen der wirtschaftlichen Stärke und der Fähigkeit, den demografischen Wandel besser zu bewältigen. Die Belastung ist in der Volksrepublik regional unterschiedlich ausgeprägt, von 20 untersuchten Städten seien Beijing und Shanghai am besten aufgestellt.
Sozialsystem muss modernisiert werden
Nicht ohne Grund betont Präsident Xi Jinping immer wieder die Bedeutung des "gemeinsamen Wohlstands", wohlweislich, dass es auch darum geht, die wachsende Zahl an Rentnern zu finanzieren. Auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 64 Jahren könnten in China 2075 etwa 60 über 65-Jährige kommen, schätzt die OECD. Ende 2021 waren es nur knapp 20. Denn die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter nimmt ab. Die Vereinten Nationen rechnen bis zum Jahr 2040 mit einem Rückgang von insgesamt 10 Prozent. Mit anderen Worten: Künftig wird eine immer geringere Anzahl von Erwerbstätigen immer mehr Rentner finanzieren müssen. Gleichzeitig sind ältere Menschen in China längst nicht so gut abgesichert wie in der Bundesrepublik.
Das Sozialsystem muss also dringend modernisiert werden. Reformschritte wurden angekündigt, wie etwa die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Stärkung der privaten Rentenvorsorge. Mit dem Immobiliengeschäft befindet sich die bislang wichtigste Art der Altersvorsorge hingegen in der Krise. Entgegen der staatlichen Meinung "Wohneigentum sei nicht zur Spekulation da" hat sich auch aufgrund von Kapitalverkehrskontrollen und fehlenden Anlagemöglichkeiten über die Jahre eine riesige Immobilienblase gebildet.
Automatisierung schafft kaum Abhilfe
Die Digitalisierung könnte dazu beitragen, bei steigenden Löhnen und der abnehmenden Erwerbsbevölkerung die Produktivität zu steigern. Doch mit der Modernisierung der Industrie werden viele einfache Tätigkeiten wegfallen und Millionen Menschen müssten umgeschult werden. Die Regierung möchte daher spezielle Bildungsangebote für Ältere schaffen. Auf Einwanderung setzt China hingegen nicht. Im Jahr 2020 lag die Zahl der Einwanderer bei 1,4 Millionen Menschen, nur rund 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Null-Covid-Politik mit den weitgehend geschlossenen Grenzen dürfte sie nochmals deutlich reduziert haben.
Ältere Generation weniger kauffreudig
Für die Volksrepublik als Absatzmarkt für Konsumgüter ergeben sich zwei Effekte. Zum einen wird die chinesische Bevölkerung (wenn überhaupt) lediglich noch wenige Jahre lang zunehmen und dann kontinuierlich schrumpfen. Nicht nur die Gesamtzahl der Konsumenten wird also erstmals sinken. Ältere Menschen geben auch tendenziell weniger aus. Zum anderen verändern sich im Alter die Konsumgewohnheiten. Laut dem 14. Fünfjahresplan zur Entwicklung des Altenpflegesystems will China die "Silver Economy" fördern. Unter anderem sind zehn entsprechende Industrieparks geplant.