Special | Tschechische Republik | Krieg in der Ukraine
Tschechiens Wirtschaft reagiert auf den Angriffskrieg
Es herrscht große Solidarität mit den Geflüchteten. Firmen kappen ihr Geschäft mit Russland. Erste Lieferketten sind unter Druck. Die Energieabhängigkeit ist groß.
16.03.2022
Von Miriam Neubert | Prag
Tschechien hat erneut den Notstand ausgerufen. Diesmal nicht wegen Covid-19, sondern um schneller auf die Welle der Schutzsuchenden aus der Ukraine reagieren zu können. Die Solidarität mit den Geflüchteten ist in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft groß – auch vor dem Hintergrund der eigenen historischen Erfahrungen mit der Sowjetunion.
Arbeitsmarkt steht ukrainischen Geflüchteten offen
Im Eilverfahren billigte das Parlament eine Reihe von Gesetzen. Sie regeln die vereinfachte Aufenthaltserlaubnis, den Zugang zur Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt und zum Schulsystem. Bis Mitte März 2022 hatte das Land 150.000 spezielle Visa ausgestellt und weitere 85.000 Menschen in Aufnahmezentren registriert.
Es kommen vor allem Frauen und Kinder. Am Anfang hatten viele von ihnen Bekannte in Tschechien, wo rund 160.000 ukrainische Staatsangehörige leben. Auf dem Arbeitsmarkt spielen diese seit Jahren eine wichtige Rolle – besonders in Landwirtschaft, Baugewerbe, verarbeitenden Industrien, Gastronomie und Logistik. Die Unternehmen, darunter Töchter deutscher Firmen, engagieren sich bei der Zusammenführung der Familien ihrer ukrainischen Beschäftigten, leisten humanitäre Hilfe, unterstützen Kommunen bei der Aufnahme.
Wirtschaftsdynamik verlangsamt, Preise steigen
Die wirtschaftlichen Folgen von Invasion und Sanktionen sind erst begrenzt abzusehen. Tschechiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sich 2021 mit einem Wachstum von real 3,3 Prozent noch nicht von der Coronarezession erholt. Prognosen für 2022, die ein Plus von rund 3 Prozent vorhersahen, müssen durch die Kriegsereignisse nach unten revidiert werden. In ersten Schätzungen gingen Wirtschaftsexperten von einer geringeren Dynamik aus. Sollte eine Zuspitzung auch die Energieversorgung betreffen, kann ein Rückgang des BIP drohen.
In Verbindung mit der bereits hohen Inflation, die im Februar 11,1 Prozent erreichte und weiter anziehen dürfte, befürchten etwa Analysten der Česká spořitelna eine Stagflation. Die Kraftstoffpreise hatten durch den Schock derart angezogen, dass die Regierung die Beimischung von Biobestandteilen abschaffte, ebenso die Straßensteuer (für Fahrzeuge bis 12 Tonnen). Seit dem 15. März kontrolliert sie die Margen der Tankstellen. Mit Ausschlägen reagierte auch der Erdgasmarkt. Zwar sanken Kraftstoff- und Energiepreise am 14. März merklich. Doch bleibt die Unsicherheit groß.
Unter der Nervosität auf den Devisenmärkten leidet die Tschechische Krone. Um ihrer Abwertung zu begegnen, interveniert die Tschechische Zentralbank auf dem Devisenmarkt.
Automobilindustrie und Maschinenbau besonders betroffen
Geht es nach dem Wert der ausgetauschten Waren, lag Russland 2021 auf Rang 10 der Außenhandelspartner, die Ukraine auf Rang 20. Das Tschechische Statistikamt erfasst dabei Transaktionen zwischen in Tschechien ansässigen Personen und Nichtansässigen. Die Verflechtung fällt eher gering aus: 2021 machten die Einfuhren aus Russland 3,5 Prozent der Gesamtimporte aus, die aus der Ukraine 1 Prozent. Bei den Ausfuhren ist die Exposition mit jeweils 2 und 0,7 Prozent noch geringer.
Die Volkswirtschaft wirkt dadurch auf der Exportseite robust. Doch trifft der Abbruch der Beziehungen zu Russland bestimmte Branchen und Unternehmen. Tschechiens Warenlieferungen nach Russland beliefen sich 2021 auf umgerechnet 3,1 Milliarden Euro. Das Gros sind Kraftfahrzeuge und Teile (26 Prozent), Elektronik und Elektrotechnik (22 Prozent) sowie Maschinen (16 Prozent).
Zu den Unternehmen, die mitteilten, dass sie ihre Aktivität auf dem russischen Markt bis auf Weiteres eingestellt haben, gehören Škoda Auto, das in zwei Werken in Russland produzierte, der Sicherheitstechnikhersteller Jablotron oder Zetor Tractors. Auch mehrere Bierproduzenten exportieren dem Wirtschaftsjournal Ekonom zufolge nicht mehr nach Russland.
Als betroffen gilt das Geschäft weiterer Unternehmen, etwa der Investmentgruppe PPF. In Russland engagiert sie sich unter anderem über Finanzinstitute und den Schienenfahrzeughersteller Škoda Transportation, der ein Joint Venture in Sankt Petersburg hat.
Im Maschinenbau sind mehrere tschechische Traditionshersteller mehrheitlich in russischer Hand. Zu ihnen zählen laut Informationsdienstleister CRIF der Ausrüster für Wasserkraftwerke ČKD Blansko Holding, der Werkzeugmaschinenhersteller Kovosvit MAS oder der Produzent von Industrieventilen MSA. Als umsatzstärkste Firmen russischer Investoren nennt CRIF neben MSA den Flugzeug- und Motorenhersteller Aircraft Industries, das Edelmetallunternehmen Safina sowie in der IKT-Branche IPVOIP, Smart Research und TeleConnect CZ.
Strategische Abhängigkeiten bei den Importen
Die eigentliche Verletzlichkeit der Volkswirtschaft zeigt sich auf der Importseite. Aus der Ukraine bezieht Tschechien 81 Prozent seiner Erzimporte. Aus Russland stammen 64 Prozent der Erdöl- und Erdgaseinfuhren. Bei Erdgas soll die Abhängigkeit fast 100 Prozent betragen.
In einer Studie rechnet Euler Hermes vor, dass der Verzicht auf Gasimporte aus Russland in der Europäischen Union fast 10 Prozent des Energieendverbrauchs betreffen würde. In Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Lettland und Deutschland seien es mehr als 20 Prozent.
Lieferketten geraten erneut unter Druck
Besonders die Ukraine ist darüber hinaus in westliche Verarbeitungsketten integriert. Wegen ausbleibender Teile von ukrainischen Zulieferern musste Škoda Auto die Produktion des elektrischen Enyaq iV stoppen. Weitere Modelle sind in Gefahr. Alternativen werden gesucht. Solche Beeinträchtigungen wirken auf andere Zulieferer – wie zum Beispiel Bosch – zurück.
Der Verband der Automobilindustrie AutoSAP schätzt, dass wegen des Konflikts die tschechische Autoproduktion mit 1,1 Millionen Pkw auf dem Niveau von 2021 stagnieren wird. Das ist ein Viertel weniger als 2019. Registriert werden Störungen bei der Lieferung von Rohstoffen und Materialien, die für die Produktion von Stahl, Aluminium, Batterien und Halbleiter nötig seien. Auch fehlten bereits konkrete Zulieferteile wie Kabelstränge.