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Tschechien sucht Wege aus der Energieabhängigkeit von Russland
Fast 24 Prozent des Gesamtenergiebedarfs ist mit russischen Lieferungen verbunden. Besonders bei Erdgas zeigen sich enorme Herausforderungen.
13.05.2022
Von Miriam Neubert | Prag
Als Land ohne Meer ist die Tschechische Republik auf Solidarität in Europa und Kooperation mit den Nachbarn angewiesen. Deutschland und Tschechien werden enger zusammenarbeiten, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland so schnell wie möglich zu reduzieren. Darauf einigten sich Bundeskanzler Olaf Scholz und der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala bei ihrem Treffen in Berlin Anfang Mai 2022. Dabei geht es laut Scholz auch darum, "mit Tschechien zusammen die notwendige Krisenvorsorge zu etablieren." Fiala zufolge wurden zwei konkrete Aspekte behandelt: Eine mögliche Erweiterung der Kapazitäten der Transalpinen Ölleitung TAL, um die tschechischen Raffinerien mit hinreichend Rohöl für die Erzeugung von Kraftstoffen zu versorgen. Und eine etwaige Mitnutzung der Kapazitäten des Flüssiggasterminals, das Deutschland in den kommenden Jahren bauen wird. Eine Arbeitsgruppe soll sich diesen Themen widmen.
Gemischtes Bild der Importabhängigkeit
Ende März 2022 hat das Ministerium für Industrie und Handel eine Analyse zur Energieimportabhängigkeit Tschechiens vorgelegt. Der Indikator zeigt, in welchem Umfang das Land auf Einfuhren angewiesen ist, um seinen Energiebedarf zu decken. Berechnet wird er als Anteil der Nettoeinfuhr (Importe minus Exporte) an der verfügbaren Bruttoenergie (entspricht dem Energiebedarf). Demzufolge ist die Importabhängigkeit von fast 26 Prozent im Jahr 2010 auf 39 Prozent 2020 gestiegen. Im Vergleich zum EU-Durchschnitt von fast 58 Prozent steht Tschechien besser da. Doch wiegt die Abhängigkeit von Russland mit 23,7 Prozent schwer.
Die im europäischen Vergleich niedrigere Abhängigkeit hat vor allem mit der Rolle der Kernkraft und der festen fossilen Brennstoffe im tschechischen Energiemix zu tun. Durch die landeseigene Kohleproduktion gab es in diesem Segment vor zehn Jahren noch Exportüberschüsse. Mittlerweile besteht bei Kohle eine Importabhängigkeit von 13 Prozent – vor allem von Polen. Mit 1,7 Prozent fällt Russland nicht groß ins Gewicht, spielt aber im Kohleuntersegment Anthrazit die wichtigste und bei energetischer Steinkohle die zweitwichtigste Rolle. Den im fünften Sanktionspaket der EU enthaltenen Importstopp auf russische Kohle kann Tschechien Analysten zufolge bewältigen.
Beim Rohöl hingegen ist das mitteleuropäische Land komplett von Importen abhängig. Aus Russland stammte 2020 die Hälfte. Als Lieferanten sind Aserbaidschan, Kasachstan, die USA und Norwegen präsent, mit geringen Anteilen Saudi-Arabien und Nigeria. Diese aufgefächerte Importstruktur liefert Ansätze für mögliche Alternativen zum russischen Erdöl. Das Problem ist der Transport. Während das Öl aus Russland über die Pipeline Druschba fließt, gelangt das Öl anderer Lieferanten über die TAL aus Italien über Bayern und den Abzweig der Leitung IKL nach Tschechien. Aus diesem Grund setzt sich die Regierung für eine Erweiterung der TAL-Kapazität ein. Zudem plädierte sie dafür, dass Tschechien das von der EU geplante Embargo auf russisches Erdöl um mindestens zwei Jahre aufschiebt.
Bei Einfuhr von Erdgas komplett auf Russland angewiesen
Die eigentliche Herausforderung aber zeigt sich bei Erdgas. Bis auf eine verschwindende Eigenproduktion von 2 bis 3 Prozent ist Tschechien ganz von Einfuhren abhängig. Anders als beim Rohöl war Russlands Position als Lieferland 2020 absolut. Norwegen, das zehn Jahre zuvor noch mit 11 Prozent im Boot war, spielte keine Rolle mehr. "Obwohl sich in den vergangenen Jahren die Diversifizierung der Infrastruktur der Erdgaslieferungen in unser Gebiet verbessert hat, handelte es sich stets um die Importabhängigkeit von einem einzigen Lieferanten, Russland", heißt es in der Analyse.
Erdgas kommt als Energieträger in allen Sektoren der Volkswirtschaft zum Einsatz. In dem Maß, wie der Anteil von Kohle an der Strom- und Wärmeerzeugung zurückging, stieg der von Gas als Übergangsressource bei der Dekarbonisierung der Energiewirtschaft.
Wie die ebenfalls vom Ministerium für Industrie und Handel erstellte Gesamtenergiebilanz zeigt, verbraucht vor allem die Industrie Erdgas. Im Jahr 2020 war es ein Endverbrauch von rund 85.000 Terajoule. Das entsprach 31 Prozent des industriellen Endenergieverbrauchs. Baustoffproduktion, Lebensmittel- und Getränkeerzeugung, Chemie und Petrochemie, aber auch Maschinenbau und Transportmittelhersteller sind auf den Energieträger besonders angewiesen. Mit 78.000 Terajoule Erdgas deckten die privaten Haushalte 26 Prozent ihres Endverbrauchs. Bei kommerziellen und öffentlichen Dienstleistern waren es 44.000 Terajoule und 35 Prozent.
Diversifizierung, Erneuerbare und Energieeffizienz
Mit dieser Angewiesenheit auf russische Gaslieferungen steht Tschechien nicht allein. Bereits zwei Wochen nach Kriegsausbruch entwarf die EU den Plan REPowerEU. Dieser soll die Einfuhren von russischem Gas bis Ende des Jahres um zwei Drittel reduzieren. Zu den geplanten Maßnahmen zählen:
- Diversifizierung der Gasversorgung durch Einfuhren in flüssiger Form (LNG) oder über Pipelines
- beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energien
- mehr Produktion und Einfuhren von Biomethan und Wasserstoff
- weniger fossile Brennstoffe in Wohn- und Geschäftsgebäuden, der Industrie und dem Energiesektor durch mehr Energieeffizienz
Um rasch voranzukommen, will Brüssel gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die passendsten Projekte ermitteln. Als Ausgangsbasis sollen die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne dienen.
Tschechien arbeitet an einer Diversifizierungsstrategie bei Zulieferungen und Transporttrassen. Es geht unter anderem um norwegisches Gas, das etwa ein Viertel des Gasverbrauchs abdecken könnte. Die Regierung setzt dabei auf einen gemeinsamen Energieeinkauf der EU, ähnlich wie bei den Covid-Impfstoffen. Parallel will die Regierung erneuerbare Quellen und Energieeffizienz forcieren. Als energieintensives Industrieland verfügt Tschechien da noch über jede Menge Potenzial.