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Tschechien will zu den Top 10 der EU gehören
Bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf will das Land bis 2040 in die Top 10 der EU aufrücken. Beobachter sehen die neue Strategie der Regierung allerdings kritisch.
04.11.2024
Von Gerit Schulze | Prag
Deutschlands Nachbarland startet einen weiteren Versuch, den wirtschaftlichen Aufholprozess gegenüber den westlichen EU-Mitgliedern zu beschleunigen. Schon im Herbst 2023 hatte Premierminister Petr Fiala eine Zukunftsvision und einen "Neustart" für die Tschechische Republik präsentiert.
Seitdem hat sich allerdings wenig getan. Im Gegenteil: Die Wirtschaftskrise verschärft sich, Investoren machen immer häufiger einen Bogen um den Standort und die Zukunftsaussichten trüben sich ein. Das Finanzministerium korrigierte die Konjunkturprognose im August 2024 nach unten. Statt 1,4 Prozent Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwartet die Behörde jetzt nur noch ein Plus von 1,1 Prozent für 2024. Die Bruttoanlageinvestitionen werden dieses Jahr sogar schrumpfen - erstmals seit dem Coronajahr 2020.
Mehr Wertschöpfung ist das wichtigste Ziel
Tschechiens neuer Industrieminister Lukáš Vlček hat deshalb bei seinem Amtsantritt im Oktober 2024 eine weitere Strategie vorgestellt, die darauf abzielt, die Wirtschaft zu transformieren und eine höhere Wertschöpfung zu erzielen. Bis 2040 soll Tschechien zu den zehn führenden EU-Ländern beim BIP pro Kopf gehören.
Im Interview mit der Tageszeitung Hospodářské noviny verwies Vlček darauf, dass sich das tschechische Wirtschaftsmodell erschöpft habe. Für mehr Wertschöpfung brauche es mehr Investitionen in das Humankapital und in die Infrastruktur. Tschechien sollte die Chancen der globalen grünen Transformation nutzen, sagte der Industrieminister.
Mit der Umsetzung der neuen Strategie will die Regierung langfristiges, nachhaltiges Wachstum erreichen, die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und mehr Wohlstand generieren. Bis Februar 2025 soll ein Umsetzungsplan vorliegen.
Elf Prioritäten für die Aufholjagd
Die Regierung definiert in ihrer Strategie elf Prioritäten:
Bildung: Mehr Kreativität und gesunde Konkurrenz in den Schulen; Unternehmergeist fördern; neue Generation auf rasch verändernde Wirtschaft vorbereiten
Arbeitsmarkt: Leistungs- und Sozialsystem soll zur Arbeit motivieren; Fähigkeiten jedes Einzelnen werden voll ausgeschöpft
Gesundheit und widerstandsfähigere Gesellschaft: Investitionen in Prävention und Programme für gesunden Lebensstil
Innovation und Forschung: Schnelle Umsetzung von Forschungsergebnissen in praktische Innovationen
Unternehmensfreundliches Umfeld: weniger Bürokratie und effizientere Verwaltung
Energie und Umwelt: Förderung emissionsfreier Energiequellen bei gleichzeitigem Schutz der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit
Ausbau der Infrastruktur: Umfassender Investitionsplan, der den langfristigen Bedarf des Landes berücksichtigt
Schutz der kritischen Infrastruktur: Schlüsselbereiche der Wirtschaft besser schützen, einschließlich der digitalen Infrastruktur
Öffentliche Finanzen: langfristige Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen sichern
Internationale Zusammenarbeit: Förderung der Marke "Tschechien" als Land der Innovationen und Kreativität, Stärkung der Zusammenarbeit mit internationalen Partnern, mehr Einfluss in EU und Nato
Kapitalverfügbarkeit: mehr Anreize zu investieren; verbesserter Zugang zu Finanzierungen; Innovationen im Finanzsektor unterstützen
Automotive und saubere Mobilität | Schlüsselsektor für Energiesicherheit und Dekarbonisierung. Tschechien will ein wichtiger Technologielieferant für Mikrochips und Batterien für die Pkw-Produktion werden. |
Halbleiter und Chipproduktion | Europa und Tschechien müssen unabhängiger werden. Gefördert werden die Entwicklung von Hochleistungselektronik und das Design von integrierten Schaltungen und Mikrochips. |
Saubere und nachhaltige Technologien | Schlüssel zum Erreichen der EU-Klimaziele und zur Verbesserung der Energieeffizienz. Investitionen in erneuerbare Energiequellen, in Speichersysteme, Wasserstofftechnologien und Kernenergie. |
Digitale Technologien | Digitale Wirtschaft verändert die traditionelle Industrie und Geschäftsmodelle. Hier will Tschechien seine strategische Autonomie erhöhen. Schwerpunkte sind künstliche Intelligenz, Big Data, Robotik, Cybersicherheit, Quantentechnologien und dezentrale Datenverarbeitung (Edge Computing). |
Geschäftswelt reagiert mit wenig Euphorie
Fachleute in Tschechien kritisieren, dass die Strategie nur wenig Neues enthalte. Mehr Bildung und Forschung, weniger Bürokratie und Modernisierung der Infrastruktur hatten sich schon die Vorgängerregierungen auf ihre Fahnen geschrieben. Die Umsetzung der Strategie kostet viel Geld und kollidiert mit den Sparbemühungen des Finanzministers. Der Anteil der Forschungsausgaben am BIP stagniert seit fünf Jahren.
Land | 2018 | 2019 | 2020 | 2021 | 2022 |
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Tschechien | 1,88 | 1,90 | 1,95 | 1,93 | 1,89 |
Deutschland | 3,11 | 3,17 | 3,13 | 3,13 | 3,13 |
Die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer (AHK Tschechien) in Prag vermisst "einen konkreten Weg, der zum Ziel eines höheren Mehrwerts führt". Der geschäftsführende Vorstand Bernard Bauer fragt: "Wer soll tschechische Hightech-Produkte in Zukunft kaufen?" Der Blick müsse sich also nicht nur nach innen auf Strukturreformen richten, sondern auch auf neue Zielmärkte.
Bauer sieht die Situation für Exportnationen wie Tschechien und Deutschland sehr ernst. "Es ist richtig, Staat und Wirtschaft müssen jetzt massiv in angewandte Forschung, Entwicklung und Innovation investieren, aber auch ganz klar den Fokus auf die Technologien setzen, die in Exportmärkten der Zukunft gebraucht werden", meint der Geschäftsführer der Auslandshandelskammer. "Für die tschechische Wirtschaft mit ihren sehr gut ausgebildeten Fachleuten im MINT-Bereich, ihren Top-Ingenieuren und IT-Experten, liegt darin eine einzigartige Chance."
Autoindustrie vom Technologiewandel besonders bedroht
Wie sehr Tschechiens Wirtschaftsmodell bedroht ist, zeigte Anfang Oktober 2024 eine Studie des Internationalen Währungsfonds IMF. Die Autoren sprechen von einem "Elektroauto-Schock" für das Land. Das BIP werde in den nächsten fünf Jahren um 1,5 Prozent schrumpfen, da die Nachfrage nach lokal produzierten Komponenten für Autos mit Verbrennungsmotoren sinkt.
Zugleich werden chinesische Hersteller den Marktanteil tschechischer Autohersteller nach unten drücken, heißt es in der Analyse. Die Verlagerung der Produktion könnte zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten in der Automobilindustrie führen, was soziale und wirtschaftliche Herausforderungen mit sich bringt. Die IMF-Experten schlagen vor, mehr ausländische Direktinvestitionen im Bereich Elektromobilität zu fördern, auch aus China. Tschechien und weitere betroffene Länder wie Ungarn und die Slowakei sollten in Innovationen investieren und Arbeitskräfte umschulen.
Großer Rückstand bei der Wirtschaftskraft
Beim BIP pro Kopf zu jeweiligen Preisen liegt Tschechien derzeit auf Platz 16 in Europa. Gerechnet nach Kaufkraftparitäten belegt das Land Rang 14. Das ist die beste Platzierung aller EU-Mitglieder in Mittelosteuropa. Doch selbst bei dieser Kennziffer müsste die tschechische Wirtschaftsleistung je Einwohner um 15 Prozent zulegen, um das bislang zehntplatzierte Finnland einzuholen.