Branchen | Ukraine | Schiffsverkehr, Häfen
Getreideabkommen zwischen Ukraine und Russland zeigt Wirkung
Anfang August verließ der erste Getreidefrachter nach der russischen Seeblockade den Hafen von Odessa. Wenn es nach der Ukraine geht, könnte das Abkommen noch erweitert werden.
15.08.2022
Von Hans-Jürgen Wittmann | Berlin
Seit Ende Juni 2022 läuft in der Ukraine die neue Erntesaison. Schätzungsweise 20 Millionen Tonnen Weizen könnten die Felder liefern, rund die Hälfte davon soll exportiert werden. Doch es fehlen Lagerkapazitäten für das neue Getreide: Die Silos in der Ukraine sind mit rund 22 Millionen Tonnen aus der letzten Ernte gut gefüllt, weil die russische Seeblockade die Lieferungen ins Ausland verhindert hat.
Am 22. Juli 2022 haben die Ukraine und Russland voneinander getrennt das Getreideabkommen mit den Vereinten Nationen und der Türkei in Istanbul unterzeichnet. Dieses Abkommen garantiert sichere Korridore, entlang derer Handelsschiffe die drei Schwarzmeerhäfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj ansteuern können.
Durch das Getreideabkommen mit Russland hofft die Ukraine, einen Teil der Lagerbestände schnellstmöglich außer Landes bringen zu können. Das Abkommen gilt zunächst für 120 Tage. Sollten pro Monat wie geplant rund acht Millionen Tonnen Feldfrüchte verschifft werden können, würde dieser Zeitraum ausreichen, um die überfüllten Getreidespeicher für die neue Ernte zu leeren.
Bisher wurden rund 90 Prozent der Ausfuhren landwirtschaftlicher Produkte über die Seehäfen des Schwarzen und Asowschen Meers abgewickelt. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges blockierte die russische Marine die Schwarzmeerküste, darunter den Hafen von Odessa, von wo aus der Großteil des Getreides exportiert wird, und eroberte die Hafenstädte am Asowschen Meer. Die Ukraine verlegte Seeminen, um eine amphibische Landung zu verhindern. Die kommerzielle Schifffahrt kam daraufhin vollständig zum Erliegen. Frachtschiffe, die zu Kriegsbeginn in ukrainischen Häfen ankerten, stecken fest.
Abkommen stellt Wiederaufnahme der Getreideausfuhren sicher
Die Einhaltung des Abkommens überwacht ein gemeinsames Kontrollzentrum (Joint Control Center, JCC) in Istanbul per Drohnen und Satellit. Experten des JCC durchsuchen die Frachtschiffe bei der Ein- und Ausfahrt durch den Bosporus auf Waffen.
Künftig will die Ukraine auch den Hafen von Mykolajiw für Exporte landwirtschaftlicher Produkte in die Vereinbarung aufnehmen. Darüber hinaus fordert der stellvertretende Wirtschaftsminister, Taras Katschka, das Abkommen auch auf andere Güter wie zum Beispiel Metalle auszuweiten.
Umsetzung des Abkommens verläuft bisher ohne Zwischenfälle
Die Premierenfahrt entlang des sicheren Korridors absolvierte am 1. August 2022 das Frachtschiff Razoni. Beladen mit rund 27.000 Tonnen Mais durchquerte das Schiff nach der Inspektion durch das JCC den Bosporus in Richtung Mittelmeer. Zum 9. August 2022 sind bereits zehn Frachtschiffe, beladen mit rund 370.000 Tonnen Mais, Sojabohnen sowie Sonnenblumenmehl aus den drei ukrainischen Häfen ausgelaufen. Sie steuern ihre Abnehmer in der Türkei, Großbritannien, Irland, Italien und China an.
Am 7. August 2022 erreichte mit der Fulmar S erstmals seit Kriegsbeginn wieder ein Frachter einen ukrainischen Hafen. Mit dem Einlaufen in Tschornomorsk habe der Getreidekorridor nun „einen Ein- und Ausgang“, fasst Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakow die positive Entwicklung zusammen.
Kapazität alternativer Transportrouten zu gering
Das Getreideabkommen ist für die ukrainische Exportwirtschaft von ungemeiner Bedeutung. Nach Beginn der russischen Seeblockade suchte die ukrainische Regierung händeringend nach neuen Transportwegen. Die größten Kapazitäten hat die ukrainische Eisenbahn Ukrzaliznytsia. Doch handelt es sich hierbei vor allem um eine Breitspurbahn. Beim Export nach Polen muss das Getreide aufwändig auf Waggons mit mitteleuropäischer Spurbreite umgeladen oder umgespurt werden. Beim Transport per Lkw schlagen die hohen Treibstoffkosten zu Buche. Zudem ist das Exportvolumen über die Donauhäfen aktuell zu gering. Kleine Flusshäfen wie Reni oder Ust-Dunajsk müssen erst modernisiert und ausgebaut sowie die Fahrrinnen vertieft werden, um die Kapazität zu steigern.
Über die alternativen Transportwege können pro Monat maximal zwei Millionen Tonnen Getreide exportiert werden, erklärt der stellvertretende Landwirtschaftsminister Taras Wyssozky. Eine Steigerung auf bis zu drei Millionen Tonnen wäre das Maximum. Vor dem Krieg führte das Land jedoch bis zu zehn Millionen Tonnen Getreide pro Monat über seine Häfen aus.
Getreideabkommen soll weltweite Hungerkrise lindern
Die Ukraine zählte vor dem Krieg zu den wichtigsten Getreideexporteuren der Welt. Das osteuropäische Land deckte im Jahr 2020 rund acht Prozent des weltweiten Bedarfs an Weizen. Bei Mais lag der Weltmarktanteil der Kornkammer Europas bei 13 Prozent, bei Sonnenblumenöl und Saatgut sogar bei 32 Prozent. Insgesamt ernährt die Ukraine weltweit rund 400 Millionen Menschen, den Großteil davon in Afrika und dem Nahen Osten.
Die Wiederaufnahme der Exporte landwirtschaftlicher Produkte aus ukrainischen Häfen erhöht das Angebot auf dem Weltmarkt. Mittelfristig dürften die Preise auf Lebensmittel also sinken. Die Aussichten sind gut. Das ukrainische Landwirtschaftsministerium hebt die Prognose für die Ernte 2022 von 60 Millionen auf 65 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten an. Dies ist umso wichtiger, da mit Russland der weltgrößte Weizenexporteur aufgrund ungünstiger klimatischer Bedingungen mit geringeren Ernteerträgen rechnet.