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Russland will Ukraine dauerhaft als Getreidelieferant ausschalten
Moskau verlängert das Getreideabkommen nicht und blockiert den Abtransport zur See. Die Ukraine will Feldfrüchte verstärkt über die Donau und die Solidaritätskorridore ausführen.
08.08.2023
Von Hans-Jürgen Wittmann | Berlin
Landwirtschaftliche Produkte sind das wichtigste Exportgut der Ukraine in Kriegszeiten. Zwischen Januar und Mai 2023 machten Agrargüter rund zwei Drittel der Ausfuhren des osteuropäischen Landes aus. In den 50 Wochen vom 1. August 2022 bis 17. Juli 2023 – dem Zeitraum, in dem das Getreideabkommen in Kraft war – exportierte die Ukraine rund 33 Millionen Tonnen Getreide im Wert von rund 9 Milliarden US-Dollar. Aktuell sitzt die Ukraine noch immer auf rund 32 Millionen Tonnen Getreide – genug um rund 400 Millionen Menschen zu ernähren. In der Erntesaison 2023/2024 kommen weitere 69 Millionen Tonnen landwirtschaftliche Produkte hinzu, von denen rund 45 Millionen Tonnen in den Export gehen sollen.
Durch das Getreideabkommen im Zeitraum vom 1. August 2022 bis 17. Juli 2023 konnten 45 Länder auf drei Kontinenten beliefert werden:
Darunter waren die Top-5-Abnehmerländer:
* Ein Teil des Getreides wird in Europa weiterverarbeitet und dann an Staaten Afrikas geliefert. |
Präsident Wladimir Putin schloss eine Wiederaufnahme des Getreideabkommens nicht aus, wenn bestimmte russische Forderungen erfüllt würden. Dabei ist die UN, mit dem das Getreideabkommen unter anderem geschlossen wurde, nicht der richtige Adressat der an sie herangetragenen Forderungen. Für die Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen sind die EU, die USA sowie die Ukraine zuständig.
Stopp des Getreideabkommens treibt Weltmarktpreise in die Höhe
Russland will die Ukraine wirtschaftlich unter Druck setzen und als Konkurrenten auf dem Getreideweltmarkt schwächen. Bereits seit Mai 2023 verzögert der Kreml die Inspektionen der Frachtschiffe am Bosporus und lehnte schließlich eine vierte Verlängerung des Getreideabkommens ab. Zudem vernichtete die russische Armee seit Ende des Abkommens mit Angriffen auf Getreidesilos und Hafenanlagen rund 220.000 Tonnen Weizen, Mais und Erbsen, die für Abnehmer in China, der Türkei und Afrika vorgesehen waren. Die russische Seeblockade verhindert das Einlaufen von Frachtschiffen in ukrainische Seehäfen. Zudem droht der Kreml damit, alle Schiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, zu militärischen Zielen zu erklären und anzugreifen – ein Verstoß gegen die UN-Charta und internationales Seerecht.
Seit dem Ende des Getreideabkommens legten die Weltmarktpreise zunächst nur leicht zu. An der Terminbörse in Chicago stiegen die Notierungen für Weizen um 3 Prozent. Die Händler hatten den Ausstieg Russlands aus dem Abkommen bereits vorab eingepreist. Doch sollte das Abkommen dauerhaft ausgesetzt bleiben, dürften die Weltmarktpreise um bis zu 15 Prozent steigen, prognostiziert der Internationale Währungsfonds. Davon profitieren vor allem russische Landwirte, da sie ihre Ausfuhrmenge steigern und die höheren Gewinne einstreichen. Russland erwartet in der Saison 2023/2024 eine Getreideernte von rund 85 Millionen Tonnen – darunter auch aus den besetzten ukrainischen Gebieten Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk. Rund 47,5 Millionen Tonnen sind für den Export bestimmt.
Russland verschenkt Getreide an Verbündete
Das Aus des Abkommens gefährdet die Ernährungssicherheit weltweit. Russland will ukrainisches Getreide, das nicht ausgeführt werden kann, deshalb durch eigenes ersetzen. Präsident Putin versprach Ende Juli 2023 auf dem Russland-Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg den Staaten Burkina Faso, Simbabwe, Mali, Somalia, Eritrea und Zentralafrika, bis zu 50.000 Tonnen pro Land einmalig und kostenlos zu liefern. Dieses Versprechen ist jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Aufgrund der Angebotsverknappung und Preissteigerungen auf dem Weltmarkt müssen afrikanische Abnehmer künftig mehr für russisches Getreide bezahlen. Der aktuelle Vorsitzende der Afrikanischen Union, Azali Assoumani, beklagte, dass der Ukrainekrieg die Lebensmittelkrise verstärkte und appellierte an Wladimir Putin, das Getreideabkommen wieder aufzunehmen.
Ukraine will Getreideexporte über die Donauhäfen steigern
Die Ukraine will die russische Seeblockade aushebeln und mehr Getreide über die Häfen Izmail und Reni im Donaudelta exportieren. Im Jahr 2022 wurden rund 15 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Güter über die Donauhäfen verschifft. Um dorthin zu gelangen, müssen Frachtschiffe entweder den Sulinaarm in Rumänien durchqueren oder das Mündungsdelta im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet befahren. Ende Juli 2023 durchbrachen drei Handelsschiffe aus Israel, der Türkei und Griechenland – unter wachsamen Augen von NATO-Flugzeugen - die russische Seeblockade und wurden im Hafen von Izmail beladen.
An der Donau sollen weitere Getreidesilos, Verladeterminals und mobile Ankerplätze entstehen. Zudem sollen auch der moldauische Hafen Giurgiulesti und das rumänische Galati als Umschlagplätze hinzugezogen werden. Im Idealfall könnte die Ukraine die monatliche Ausfuhrmenge über die Donauhäfen auf rund 4 Millionen Tonnen verdoppeln, hofft Mykola Horbatschew, Präsident der Ukrainischen Getreidevereinigung (UGA).
EU will Solidaritätskorridore ausweiten
Über die im Mai 2022 eingerichteten Solidaritätskorridore wurden innerhalb eines Jahres rund 11 Millionen Tonnen Getreide auf dem Schienenweg und weitere 6 Millionen Tonnen auf der Straße exportiert. Mykola Horbatschew schätzt, dass bei einem Ausbau der Kapazitäten monatlich bis zu 4 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten über die Solidartätskorridore ausgeführt werden könnten.
Die EU will die Ausfuhrmenge auf dem Landweg erhöhen. Kroatien bietet an, ukrainisches Getreide über Häfen an der Adriaküste auszuführen. Litauen bringt den Abtransport des Getreides über die Ostseehäfen der drei baltischen Staaten ins Gespräch. Doch die EU-Mitgliedsstaaten Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien verhängten bis 15. September 2023 ein Einfuhrverbot. Sie fürchten wegen unzureichender Transportkapazitäten ein Überangebot, sollte das billige ukrainische Getreide auf den Inlandsmarkt kommen und damit sinkende Erlöse für einheimische Landwirte. Erschwerend hinzu kommt, dass der Transport auf den Solidaritätskorridoren aufwändiger und teurer ist und die Marge drückt. Ukrainische Landwirte können dann weniger Feldfrüchte anbauen und im kommenden Jahr geringere Ernteerträge erzielen. Das wiederum freut nur ihre russische Konkurrenz.
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