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Krieg beschleunigt Umbau des ukrainischen Gesundheitssystems
Die Ukraine strebt eine moderne Gesundheitsversorgung nach europäischem Vorbild an. Schwerpunkte sind dabei Digitalisierung, Telemedizin und die Rehabilitation von Versehrten.
29.06.2023
Von Viktor Ebel, Edda Wolf | Bonn
Die Bilder der bombardierten Geburtsklinik im ukrainischen Mariupol gingen im März 2022 um die Welt. Neben dem akuten menschlichen Leid verursachen die russischen Angriffe massive Zerstörungen der medizinischen Infrastruktur in der Ukraine. Laut Gesundheitsministerium wurden bis Juni 2023 insgesamt 1.544 medizinische Einrichtungen getroffen, von denen 184 vollständig zerstört wurden.
Der materielle Schaden im Gesundheitssystem beläuft sich auf mindestens 1,4 Milliarden US-Dollar (US$), so eine Bewertung durch die ukrainische Regierung und internationale Organisationen. Besonders betroffen sind die Regionen Charkiw, Cherson, Donezk, Mykolajiw und Kiew.
Noch schwerer wiegen dürfte aber der eingeschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung. Während beschädigte Kliniken zum Teil ihre Arbeit eingestellt haben, müssen Krankenhäuser im Westen des Landes mit Millionen von Vertriebenen und zahlreichen Verletzten zurechtkommen. Die Folge ist, dass viele nicht akute Fälle ohne Diagnose bleiben. Das werde das Gesundheitssystem in fünf bis zehn Jahren zusätzlich belasten, erklärte der stellvertretende Gesundheitsminister Igor Kuzin auf einer Pressekonferenz.
Wiederaufbau des Gesundheitssektors kostet Milliarden
Das Gesundheitswesen genießt aufgrund der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen beim Wiederaufbau daher eine besonders hohe Priorität. Bei der Lugano-Konferenz im Juli 2022 rechnete die ukrainische Regierung vor, dass für Instandsetzung und Modernisierung des Gesundheitssystems sowie die Ausweitung des medizinischen Angebots bis 2032 etwa 5 Milliarden US$ benötigt werden.
Vorhaben | Kosten (in Mrd. US$) | Zeithorizont |
---|---|---|
Investition in medizinische Einrichtungen für die Grundversorgung, Kardiologie und Onkologie | 3,0-3,5 | 2023-2032 |
Nationales Programm für mentale Gesundheit und psychologische Unterstützung | 0,5 | 2022-2023 |
Verbesserung der digitalen Gesundheitsversorgung | 0,5 | 2022-2025 |
Nationale Kampagne gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen | 0,5 | 2023-2025 |
Verbesserung des Rehabilitationsangebots | 0,1 | 2023-2025 |
Stärkung der Grundversorgung (inklusive Förderung der Hausärzte) | 0,1 | 2023-2025 |
Stärkung der IT-Infrastruktur für die Arbeit mit Gesundheitsdaten | 0,1 | 2022-2025 |
Verbesserte Personalbedarfsermittlung im Gesundheitswesen | 0,1 | 2023-2025 |
Doch die Ukraine will es nicht beim Wiederaufbau belassen. Das Land möchte seine Krankenhäuser, Praxen und Apotheken nach europäischem Vorbild modernisieren und damit einen weiteren Schritt in Richtung EU-Integration machen.
"Build back better" hält Einzug im Gesundheitswesen
Bereits seit 2017 reformiert die Ukraine ihr Gesundheitssystem. Beobachter bescheinigen der Regierung durchaus Erfolge. So wurde die Primärversorgung verbessert und die Korruption bei der kostenlosen Grundversorgung eingedämmt. Während der Pandemie hat zudem die Digitalisierung einen erheblichen Schub erfahren.
Das Gesundheitssystem der Ukraine verabschiedet sich von seiner sowjetischen Prägung und passt sich den Standards der EU an. Am 1. Oktober 2023 tritt das neue Gesetz über das öffentliche Gesundheitssystem in Kraft, mit dem die letzte Phase des Übergangs eingeleitet wird.
Zukünftig soll das öffentliche Gesundheitswesen in der Ukraine prioritär:
nicht-übertragbare Krankheiten (wie Herz-Kreislauf- und chronische Atemwegserkrankungen, Krebs, Diabetes) bekämpfen,
die Arbeit der Hausärzte stärken,
Kriegsverletzte rehabilitieren,
die Digitalisierung vorantreiben,
seine Standards an WHO- und EU-Normen anpassen.
Mehrere Finanzierungsquellen für den Wiederaufbau
Momentan werden viele Menschen im Kriegsgebiet provisorisch über mobile Ambulanzen und Apotheken versorgt. Zudem wurden Stand Juni 2023 etwa 300 medizinische Einrichtungen vollständig wiederhergestellt, 332 weitere wurden zum Teil wieder instandgesetzt. Neben Spenden ist der "Fonds für die Wiederherstellung zerstörter Objekte" beim Ministerium für Infrastruktur eine wichtige Finanzierungsquelle für den Wiederaufbau von Krankenhäusern. Dieser ist mit 52 Milliarden Hrywnja (UAH; rund 1,3 Milliarden Euro; Wechselkurs am 28. Juni 2023: 1 Euro = 40,02 UAH) gefüllt und soll bis Jahresende mithilfe der USA und der EU um weitere Milliarden aufgestockt werden.
In der Ukraine sind am 1. März 2023 neue staatliche Bauvorschriften für Krankenhäuser in Kraft getreten. Folgendes muss sichergestellt sein:
Die Änderungen gelten für Neubauten, Einrichtungen im Wiederaufbau und in Teilen auch für Sanierungsprojekte. |
Internationale Partner stoßen zudem eigene Projekte an. Die Weltbank stellt für den Wiederaufbau und die Modernisierung des Gesundheitssektors im Rahmen des HEAL-Ukraine-Programms eine Anfangsfinanzierung in Höhe von 100 Millionen US$ zur Verfügung. Insgesamt könnten die Darlehen auf bis zu 500 Millionen US$ aufgestockt werden.
Telemedizin und Rehabilitation rücken in den Vordergrund
Digital-Health-Lösungen haben das ukrainische Gesundheitswesen bereits während der Coronapandemie maßgeblich mitbestimmt. Auch in Kriegszeiten verbessert die Telemedizin den Zugang von Patienten zu qualifizierter medizinischer Versorgung. Mit innovativen Tools will die ukrainische Regierung die digitale Transformation des Gesundheitswesens weiter vorantreiben. Dabei zeigt sie sich auch offen für die Kooperation mit privaten Anbietern, Spendern und internationalen Organisationen.
Seit Beginn des Krieges sind sieben Pilotprojekte an den Start gegangen. Unter anderem unterstützt das Charité-Klinikum Berlin über die Plattform Teladoc Health die ukrainische Kinderklinik Ohmatdyt bei Untersuchungen und Behandlungsplänen. Auch ferngesteuerte Roboter kommen dabei zum Einsatz.
Der Bedarf an Rehabilitation ist in der Ukraine kriegsbedingt sprunghaft angestiegen. Die 244 Reha-Zentren haben ihre Kapazitäten von 3.400 Reha-Sitzungen pro Tag im Jahr 2022 auf 8.000 tägliche Reha-Sitzungen Ende April 2023 gesteigert. Viele neue Einrichtungen haben ihre Pforten geöffnet oder planen dies. So auch die Klinikkette Recovery des ukrainischen Milliardärs Viktor Pintschuk, die bis Ende 2023 sechs zusätzliche Zentren in verschiedenen Teilen des Landes eröffnen will. Eine der führenden privaten Klinikketten, Dobrobut, plant ab September 2023 ein großes Reha-Zentrum in Kiew zu bauen. Das bis zu 20 Millionen US$ teure Vorhaben wird von der amerikanischen Agentur DFC gefördert.
Deutschland ist ein wichtiger Lieferant von Medizintechnik
Zwar entfällt der größte Teil des Gesundheitsmarktes in der Ukraine auf den öffentlichen Sektor. Doch die Bedeutung privater Anbieter nimmt seit Jahren zu. Zusammen mit den steigenden staatlichen Gesundheitsausgaben ergeben sich für ausländische Anbieter von Medizintechnik gute Chancen.
Traditionell deckt die Ukraine rund 90 Prozent ihres Medizintechnikbedarfs aus Importen. Im Jahr 2021 hat die Ukraine Medizintechnik in Höhe von etwa 900 Millionen US$ eingeführt, deutsche Unternehmen hatten daran einen Anteil von 13 Prozent und lagen somit an zweiter Stelle hinter China.
HS | Produktgruppe | 2021 | Veränderung 2021/2020 | davon aus Deutschland (2021) |
---|---|---|---|---|
Summe, darunter | 929,2 | 16,1 | 124,8 | |
9022 | Röntgenapparate etc. | 216,8 | 46,5 | 24,2 |
9018.90 | Andere Instrumente, Apparate und Geräte | 198,2 | 14,9 | 46,2 |
9019, 9020 | Therapiegeräte, Atmungsgeräte etc. | 122,5 | -23,3 | 9,2 |
9021 | Orthopädietechnik, Prothesen etc. | 113,4 | 12,8 | 14,5 |
9018.11 bis .20 | Elektrodiagnoseapparate und -geräte | 111,7 | 17,5 | 12,1 |
Sonstige | 166,6 | 33,8 | 18,6 |
Bezeichnung | Anmerkungen |
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Ansprechpartner für das Gesundheitswesen in der Ukraine | |
Anlaufstelle für deutsche Unternehmen | |
Austauschplattform des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft und der German Health Alliance | |
European Business Association - Komitee für Gesundheitswirtschaft | Anlaufstelle für europäische Unternehmen |
Staatliche Beschaffungsstelle für Arzneimittel | |
Studie zu Telemedizin in der Ukraine | Herausgeber: USAID (2022) |
Termin: 3.-5. Juli 2023; Berlin |