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Branchen | Ukraine | Agrarrohstoffe

Krieg in Europas Kornkammer gefährdet Nahrungsmittelversorgung

Russlands Angriff beeinträchtigt die ukrainische Landwirtschaft. Kampfhandlungen, Diebstahl und Hafenblockaden reduzieren Anbau- und Exportmengen. Eine Versorgungskrise droht.

Von Hans-Jürgen Wittmann | Berlin

Die Ukraine gilt wegen ihrer fruchtbaren Schwarzerdeböden als "Kornkammer Europas". Im Jahr 2021 trug der Agrarsektor 10,6 Prozent zur Entstehung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei. Der Anteil landwirtschaftlicher Produkte an den Ausfuhren lag bei 41 Prozent. Die Branche erwirtschaftet mit rund 20 Milliarden US-Dollar (US$) rund ein Drittel der Exporterlöse des Landes. Deutschland importierte 2021 für rund 1,9 Milliarden US$ Agrarprodukte aus der Ukraine, darunter Getreide, Mais und Sonnenblumensaaten.

Der russische Angriffskrieg zieht den Agrarsektor stark in Mitleidenschaft. Seit Ende Februar 2022 wurden landwirtschaftliche Vermögenswerte wie Landtechnik, Gewächshäuser oder Viehzuchtanlagen im Wert von rund 6,4 Milliarden US$ beschädigt, berechnet die Welternährungsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen.

Von den Kampfhandlungen sind rund 14 Prozent des weltweiten Getreidehandels betroffen. Das Getreidedefizit auf den Weltmärkten bekommen vor allem Abnehmer im Nahen Osten sowie in Nord- und Ostafrika zu spüren. Somalia und Eritrea beziehen rund die Hälfte ihres Getreides aus der Ukraine. Der Libanon, Mauretanien, Tunesien und Dschibuti hängen fast vollständig von Einfuhren aus der Ukraine ab.

Krieg verringert Aussaatflächen und Ernteerträge

Die Aussaat verläuft trotz der Kampfhandlungen und der Blockade von Saatgutlagern auf dem ukrainisch kontrollierten Territorium weitgehend erfolgreich. Anfang Mai 2022 war die Frühjahrsaussaat, die teilweise unter Lebensgefahr vorgenommen wurde, bereits zu 80 Prozent abgeschlossen.

Aktuell werden mit 14 Millionen Hektar rund 75 Prozent der Anbauflächen des Landes genutzt, meldet der Ukrainian Agrobusiness Club (UCAB). Etwa 13 Prozent des Staatsgebiets sind vermint. Blindgänger und ausgelaufener Treibstoff behindern den Getreidebau. Anbaugebiete im Osten und Süden des Landes sind derzeit von russischen Truppen besetzt.

Die Knappheit bei Düngemitteln verschärft die Situation. Bei Getreide und Ölsaaten wird die Ernte im Jahr 2022 kriegsbedingt nur rund 63 Millionen Tonnen betragen, schätzt der Ukrainische Getreideverband (UZA). Nach der Rekordernte aus dem Vorjahr mit rund 106 Millionen Tonnen bedeutet dies einen Rückgang um ein Drittel. Bei Mais erwartet der Branchenverband mit 23,1 Millionen Tonnen ein Minus von rund 40 Prozent. Die Sonnenblumenernte wird mit rund 9,8 Millionen Tonnen um 43 Prozent geringer ausfallen als im Vorjahr. Die Rapsernte halbiert sich voraussichtlich auf 1,5 Millionen Tonnen.

Diebstahl verschärft Defizit bei Getreide

Russische Streitkräfte plündern in den besetzten Gebieten im Osten und Süden des Landes. Die FAO schätzt, dass die Besatzer seit Kriegsbeginn rund 700.000 Tonnen Getreide entwendet haben, darunter auch Saatgut. Insgesamt könnten rund 1,5 Millionen Tonnen Getreide aus den besetzten Gebieten im Osten und Süden des Landes dem Raubzug zum Opfer fallen, befürchtet der stellvertretende Landwirtschaftsminister Taras Wysotskyj. Die russische Armee greift darüber hinaus gezielt Getreidespeicher an. Zudem häufen sich die Berichte über den Diebstahl landwirtschaftlicher Geräte.

Hafenblockade behindert Getreideausfuhr

Die Ukraine war im Jahr 2021 mit 44,9 Millionen Tonnen weltweit der viertgrößte Exporteur von Getreide, darunter 16,6 Millionen Tonnen Weizen. Diese können rund 400 Millionen Menschen ernähren. Bei Maisexporten lag die Ukraine ebenfalls auf Platz vier. Vor dem Krieg wurde fast der gesamte Export landwirtschaftlicher Produkte über Häfen abgewickelt. Monatlich wurden bis zu 5 Millionen Tonnen Getreide verschifft.

Seit Kriegsbeginn blockiert die russische Marine die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer. Anfang Mai 2022 meldete die FAO, dass rund 5 Millionen Tonnen Getreide nicht mehr von dort exportiert werden können. In Silos lagern zudem weitere 20 Millionen Tonnen der letztjährigen Ernte. Liegt das Getreide länger als drei Monate, droht es zu verderben. Im Schwarzen Meer treiben Seeminen und beschädigten bereits mehrere Frachtschiffe. Der Branchenverband UZA rechnet damit, dass die Ukraine im Jahr 2022 rund 35 Millionen Tonnen Getreide exportieren wird. Einnahmeausfälle von bis zu 50 Prozent sind die Folge. Damit fehlen den Landwirten finanzielle Mittel zum Kauf von Saatgut und Düngemitteln für die Winteraussaat.

Um den Teufelskreis zu durchbrechen, sucht die Regierung nach Alternativen. Der bulgarische Hafen Warna soll als Logistikdrehscheibe für den Export von Getreide, Sonnenblumenkernen und Mehl fungieren. Die litauische Regierung bietet den Hafen Klaipeda als Umschlagterminal für landwirtschaftliche Produkte an. Zudem sind die lettischen Häfen Riga, Ventspils sowie Liepaja im Gespräch.

Eisenbahn kann nur einen Bruchteil der Ausfuhren ersetzen

Die Ukraine treibt den Export von Getreide mit der Eisenbahn voran. Jedoch sind die Kapazitäten beschränkt. Die Ausfuhrmenge per Schiene liegt bei rund 600.000 Tonnen pro Monat. Der Abtransport der aktuell vorhandenen Agrarrohstoffe würde bei den vierfachen Kosten für die Logistik rund 40 Monate dauern. Die Umstellung der Spurbreiten an der Westgrenze erhöht den Aufwand. Zudem greift Russland verstärkt das Schienennetz an.

Die Ukrainische Eisenbahn (Ukrzaliznytsya) steigert kontinuierlich ihr Frachtvolumen. Im April 2022 betrugen die Getreideausführen über die Schiene bereits 3,5 Millionen Tonnen, erklärte Taras Wysotskyj. In den kommenden Monaten soll die Kapazität um die Hälfte steigen. Die Deutsche Bahn organisiert eine Getreidebrücke für Agrarprodukte aus der Ukraine. Pro Zug sollen 52 Container mit Getreide abtransportiert werden. Die private Initiative "Grain Train" setzt ebenfalls auf intermodale Container. Täglich sollen 45 Züge mit je 1,8 Kilometer Länge zwischen Lwiw und Duisburg verkehren.

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