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Lage im ukrainischen Energiesektor spitzt sich zu
Russlands Angriffe zielen weiterhin auf die zivile Infrastruktur der Ukraine. Viele Menschen sind ohne Strom, ohne Heizung und ohne Wasser. Doch der Winterhärtetest beginnt erst.
09.12.2022
Von Gerit Schulze | Berlin
Die Situation in der ukrainischen Energiewirtschaft bleibt angespannt. In der gesamten Ukraine wurde auf Notstromversorgung umgestellt. Um das Stromsystem funktionierend zu halten und den Verbrauch zu begrenzen, kommt es zu stundenlangen Abschaltungen in allen Regionen.
Kraft- und Umspannwerke im Visier
Seit Anfang Oktober 2022 hat Russland mit Raketen und Kampfdrohnen massive Angriffswellen gegen Objekte der ukrainischen Strom- und Wasserwirtschaft geflogen. Ziele sind Kraftwerke, Umspannwerke, Übertragungsnetze und Wasserleitungen. "Alle Wärme- und Wasserkraftwerke der Ukraine wurden beschädigt. Zudem sind etwa 40 Prozent der Hochspannungsnetzanlagen unterschiedlich stark beschädigt. Daher ist in den meisten Regionen die Stromversorgung erheblich eingeschränkt", bilanziert Premierminister Denys Schmyhal.
Nach Angaben des ukrainischen Regionalministeriums zerstörte Russland in neun Monaten Krieg bereits rund die Hälfte der Energieinfrastruktur:
Am 6. Dezember 2022 konnten nach Regierungsangaben nur 81 Prozent des benötigten Stroms produziert werden. Eine hundertprozentige Wiederherstellung des Energiesystems sei derzeit nicht möglich, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am 7. Dezember 2022. |
"Mehr als tausend Raketen und Drohnen" seien von Russland "seit dem 10. Oktober" abgefeuert worden, erklärte Ukrenergo-Chef Wolodymyr Kudryzkyj. Die Geschosse trafen Kraftwerke und Umspannstationen in den Regionen Kiew, Winnyzja, Charkiw, Donezk, Odessa und Cherson. Am schwierigsten ist die Lage "in Odessa und in Cherson, wo das Stromnetz praktisch zerstört wurde", so Kudryzkyj. Beide Städte müssen wochenlang fast ohne Elektrizität auskommen. Auch in Donezk und Charkiw sei die Situation "kompliziert". Besonders hart trifft es Bachmut im Osten des Landes.
Laut Premier Schmyhal wurden bislang 45 Umspannwerke repariert und damit 88 Prozent der zerstörten Anlagen (Stand: 5.12.2022). Ukrenergo will erreichen, dass die Zeitpläne eingehalten und die Abschaltungen auf vier Stunden am Tag begrenzt werden.
Auch wenn die Techniker der Netz- und Kraftwerksbetreiber im Eiltempo die Schäden ausbessern, bleibt die Lage kritisch. Die Energieversorgung der Ukraine beruht auf Großkraftwerken, die mehrere Regionen mit Strom und Wärme versorgen. Wenn eine Anlage ausfällt, wie das Wärmekraftwerk Saporischschja mit 1,2 Gigawatt Leistung, sind weite Landesteile ohne Elektrizität. Das Winterwetter erschwert die Reparaturarbeiten. Übertragungsnetzbetreiber Ukrenergo berichtet von starken Windböen und vereisten Kabeln.
Alle Atommeiler zeitweise vom Netz
Am 23. November 2022 mussten nach gezieltem Beschuss von Hochspannungsleitungen, Transformatoren und Umspannwerken sogar erstmals alle vier ukrainischen Kernkraftwerke gleichzeitig abgeschaltet werden. Wie das Umweltministerium berichtete, brach in den Anlagen das Stromnetz zusammen, woraufhin die Reaktoren sofort isoliert und Dieselgeneratoren eingeschaltet wurden. Dadurch konnte das Kühlwasser in den Abklingbecken weiter zirkulieren. Zwei Generatoren wurden bei der Notabschaltung beschädigt.
Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO zeigt sich besorgt über die instabile nukleare Sicherheitslage im Land. Sie fordert eine Sicherheitszone um das größte Kernkraftwerk Europas bei Saporischschja.
Unternehmen leiden unter Stromausfällen
Die Energieausfälle treffen auch die Wirtschaft. Der Verband der kleinen, mittleren und privatisierten Unternehmen schätzt die Umsatzeinbußen auf 5 bis 8 Prozent, in einigen Regionen auf bis zu 16 Prozent. Häufig falle die Produktion aus, die Lieferketten seien gestört und die Nachfrage der Kunden sinke, sagte Verbandschef Wjatscheslaw Bykowez in einem Fernsehinterview.
Das Wirtschaftsministerium erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt 2022 wegen der Angriffe auf die Energieinfrastruktur noch stärker sinkt als ursprünglich vorausgesagt. Ministerin Julija Swyrydenko rechnet jetzt mit einem realen Rückgang der Wirtschaftsleistung um bis zu 33,5 Prozent beziehungsweise ein Drittel! |
Der Vizechef der Nationalbank, Serhii Nikolaitschuk, sagte in einer Paneldiskussion, dass 10 Prozent Energiedefizit einen Produktionsrückgang um 5 Prozent verursachten. Im Oktober prognostizierte die Nationalbank für 2023 noch einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung. Inzwischen sei ein Wachstum unwahrscheinlich.
Hilfe aus dem Ausland trifft ein
Immerhin bekommt die Ukraine Beistand von außen. Die westlichen Länder helfen mit Energietechnik wie Transformatoren, Kabeln und Schaltern. Vizewirtschaftsminister Denys Kudin erklärte bei einer Online-Konferenz am 8. Dezember 2022, dass in den letzten zwei Wochen Stromgeneratoren im Wert von 60 Millionen US-Dollar importiert wurden. Generatoren, Stromspeicher und andere Ausrüstungen können gemäß dem ukrainischen Zolldienst zollfrei und ohne schriftliche Konformitätserklärung eingeführt werden.
Der türkische Betreiber von schwimmenden Gaskraftwerken, Karpowership, führt laut Nachrichtenagentur UBN Verhandlungen, um die Ukraine von Moldau oder Rumänien aus mit Strom zu versorgen. Dort sollen Schiffe mit einer Erzeugerleistung von 300 bis 400 Megawatt verankert werden.
EU gibt Ukrenergo 372 Millionen Euro
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) stattet Ukrenergo mit einer Finanzhilfe von 372 Millionen Euro aus, um Ausrüstungen für Notfallreparaturen zu beschaffen und die Kapitaldecke des Unternehmens zu stärken. Die europäischen Hilfen für die ukrainische Energiewirtschaft koordiniert die Energiegemeinschaft über den Ukraine Energy Support Fund. Das Vereinigte Königreich hat dem Fonds eine finanzielle Spende über 10 Millionen Pfund zugesagt.
Viele EU-Länder helfen auch bilateral. Polen schickt 42 Kilometer Kabelstränge, 259 Transformatoren, Strombegrenzer und Trennschalter. Die Niederlande liefern 26 Hochleistungstransformatoren und Ersatzteile. Der dänische Dämmstoffhersteller Rockwool spendete 60 Generatoren für die Region Tschernihiw.
In Deutschland läuft aktuell eine Spendenkampagne für Energietechnik für die Ukraine. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz stellt außerdem 3,5 Millionen Euro für den Kauf von Energietechnik bereit. Die Beschaffung der Güter organisiert die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Das Technische Hilfswerk liefert 470 Stromgeneratoren im Wert von 19,5 Millionen Euro. Schon 150 Geräte sind in der Ukraine angekommen, 320 weitere werden für den Transport vorbereitet. |
Die USA sagten der Ukraine auf dem NATO-Treffen in Bukarest Ende November 53 Millionen US-Dollar für den Kauf wichtiger Ausrüstung für das Stromnetz zu. Das Paket umfasst Transformatoren, Trennschalter, Fahrzeuge und mehr. Japan kündigte 2,57 Millionen US-Dollar Nothilfe für den ukrainischen Energiesektor in Form von Generatoren und Solarmodulen an.
Die wachsende Zahl an mobilen Stromgeneratoren treibt allerdings die Nachfrage nach Benzin- und Dieselkraftstoff um 10 bis 20 Prozent nach oben. Hier drohen neue Engpässe. Da auch der Bedarf an Brennholz zunimmt, will die Regierung dessen Export vorübergehend verbieten.