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Ukrainische Bauwirtschaft setzt auf Projekte zum Wiederaufbau
Die ukrainische Bauwirtschaft könnte ihren Tiefpunkt erreicht haben. Zumindest im Wohnungsbau gibt es erste Anzeichen einer Stabilisierung und leichten Belebung.
11.04.2023
Von Gerit Schulze | Berlin
- Stärkster Rückgang aller Wirtschaftszweige
- Projektentwickler gewähren hohen Rabatt beim Wohnungskauf
- Besitzer zerstörter Gebäude bekommen Zuschüsse für Neubau
- Bauvolumen nur noch ein Drittel des Vorkriegsniveaus
- Reform der Stadtplanung soll für Transparenz sorgen
- Energieeffizienz im Gebäudebau immer wichtiger
- Neue Vorhaben bei der Baustoffproduktion
Die ukrainische Bauwirtschaft braucht nach Russlands Angriffskrieg dringend neue Wachstumsimpulse. Die Regierung will deshalb in den Regionen Kiew, Sumy, Charkiw, Cherson und Tschernihiw jeweils eine Pilotkommune bestimmen, in der der Gebäudebestand umfassend modernisiert werden soll. Die Europäische Investitionsbank EIB stellt außerdem 340 Millionen Euro für 83 Renovierungsvorhaben bereit - von Krankenhäusern über Schulen bis hin zu Bewässerungsanlagen für die Agrarwirtschaft.
Stärkster Rückgang aller Wirtschaftszweige
Damit könnte der Wiederaufbau starten, während der Krieg im Osten des Landes weitergeht. Für die Baubranche wäre das ein wichtiges Signal. Ihr Produktionsvolumen war 2022 um über 65 Prozent gesunken und damit so stark wie kein anderer Wirtschaftszweig (Industrieproduktion -37 Prozent, Bergbau -38 Prozent, Energieproduktion -31 Prozent). Der Wert der Bauleistungen betrug umgerechnet nur noch 3,35 Milliarden Euro.
Innerhalb der Baubranche war der Rückgang im Wohnungsbau am geringsten. Nach Angaben des ukrainischen Statistikamtes wurden 2022 die Arbeiten für insgesamt 6,67 Millionen Quadratmeter neuen Wohnraum begonnen (-48 Prozent gegenüber dem Vorjahr).
Jahr | Wohnungen in Einfamilienhäusern | Wohnungen in Mehrfamilienhäusern |
---|---|---|
2018 | 167.000 | 136.200 |
2019 | 189.000 | 163.500 |
2020 | 112.100 | 89.600 |
2021 | 170.800 | 144.200 |
2022 | 98.400 | 85.100 |
Projektentwickler gewähren hohen Rabatt beim Wohnungskauf
Wie das Wirtschaftsportal UBR.ua berichtete, liegt der Bedarf an Neubauwohnungen derzeit um rund 40 Prozent unter dem Stand von Februar 2022. Die Projektentwickler gewähren deshalb Nachlässe von bis zu einem Viertel des ursprünglichen Verkaufspreises.
Jahr | Wohnfläche in Mio. Quadratmetern |
---|---|
2018 | 8,69 |
2019 | 11,03 |
2020 | 8,45 |
2021 | 11,43 |
2022 | 7,11 |
Besitzer zerstörter Gebäude bekommen Zuschüsse für Neubau
Neuen Schwung in den Wohnungsbau könnten Entschädigungszahlungen für vom Krieg betroffene Wohnungsbesitzer bringen. Ein entsprechendes Gesetz Nr. 2923-IX tritt am 22. Mai 2023 in Kraft. Eigenheimbesitzer, deren Häuser zerstört wurden, bekommen Zuschüsse für einen Neubau an gleicher Stelle. Wohnungseigentümer erhalten Zertifikate, mit denen sie überall im Land eine neue Wohnung erwerben können. Die Höhe der Entschädigung richtet sich nach dem Immobilienwert des zerstörten Eigentums.
Laut UBR.ua wurden bis Anfang Februar 2023 bereits 320.000 Anträge auf Kompensationszahlungen gestellt. Die Finanzierung erfolgt über den Fonds zur Beseitigung der Kriegsfolgen, der Ende 2022 gegründet wurde.
Bauvolumen nur noch ein Drittel des Vorkriegsniveaus
Stärker als im Wohnungsbau ist der Rückgang bei anderen Gebäudearten, besonders bei Hotelbauten und öffentlichen Gebäuden. Im Tiefbau erreichte das Bauvolumen 2022 sogar nur 34 Prozent des Vorkriegsstandes.
Regional findet derzeit etwa ein Drittel der Bauaktivität in den Gebietshauptstädten im Westen des Landes statt, vor allem in Lwiw. Nach Schätzungen des Projektentwicklers INSPI Development entfallen weitere 30 Prozent auf Kiew, 12 Prozent auf Odessa und 10 Prozent auf Dnipro.
Objektart | 2021 | 2022 | Veränderung in % |
---|---|---|---|
Hotels und Restaurants | 793.500 | 197.600 | -75,1 |
Bürogebäude | 438.000 | 231.300 | -47,2 |
Handelsimmobilien | 1.702.400 | 861.000 | -49,4 |
Industrie- und Lagerbauten | 1.714.300 | 843.700 | -50,8 |
Öffentliche Gebäude (Schulen, Krankenhäuser) | 449.200 | 111.400 | -75,2 |
Der Einbruch bei den Bauaktivitäten wirkt sich auf den Arbeitsmarkt aus. Die Baubranche erlebte 2022 unter allen Wirtschaftszweigen des Landes das größte Minus bei den Löhnen. Sie gingen nominal um 13 Prozent auf durchschnittlich 9.800 Hrywnja (290 Euro) zurück. Bei einem künftigen Wiederaufschwung der Bauindustrie ist ein erheblicher Personalmangel zu erwarten, da viele Bauleute zum Militärdienst eingezogen oder aus dem Land geflüchtet sind. |
Reform der Stadtplanung soll für Transparenz sorgen
Für Veränderungen in der Bauwirtschaft sorgen zahlreiche Gesetzesvorhaben, die während des Krieges umgesetzt werden. Besonders einschneidend könnte die Reform der Stadt- und Raumplanung sein. Das entsprechende Gesetzesprojekt Nr. 5655 wurde Ende Dezember 2022 vom Parlament angenommen und bedarf noch der Unterschrift des Präsidenten.
Entscheidungen im Städtebau soll künftig kein zentrales Gremium mehr treffen, sondern dezentrale Strukturen mit Hilfe privater Gutachter. Ziel ist es, die Branche und die Planungsprozesse weniger korruptionsanfällig zu machen. Dadurch wird die Erteilung von Baugenehmigungen weniger von Personen abhängig sein und durch digitale Verfahren automatisiert.
Energieeffizienz im Gebäudebau immer wichtiger
Das Regionalministerium hat ein Programm zur energieeffizienten Sanierung öffentlicher Gebäude gestartet, das von der Europäischen Investitionsbank EIB unterstützt wird. Im Rahmen dieses Vorhabens sollen vor allem in kleineren Gemeinden rund 1.000 Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Kultureinrichtungen und Verwaltungsgebäude modernisiert werden. Zu den geförderten Maßnahmen gehören die Sanierung von Heizungs- und Lüftungssystemen, neue Beleuchtung, die Dämmung von Fassaden und Dächern sowie der Einbau von Thermofenstern und Zählern.
Die Hauptstadt Kiew hat ihr Budget für Bauvorhaben und Renovierungsarbeiten 2023 deutlich ausgeweitet und plant dabei mit Ausgaben von umgerechnet 480 Millionen Euro. Fast die Hälfte davon fließt in den Straßen- und Brückenbau. Außerdem werden Heizkraftwerke repariert, Gebäude wärmegedämmt, Dächer und Fassaden saniert sowie Fenster ausgetauscht.
Neue Vorhaben bei der Baustoffproduktion
Im Einklang mit der Bauwirtschaft war 2022 auch die Produktion von Baustoffen dramatisch gesunken. Der Zementausstoß halbierte sich laut Verband Ukrzement auf 5,4 Millionen Tonnen. Der Inlandsbedarf brach sogar auf ein Drittel seines Vorkriegswertes zusammen. Die überschüssige Produktion konnte exportiert werden.
Allerdings gibt es im Baustoffbereich auch wieder erste Investitionsprojekte. Die deutsche Fixit Gruppe baut derzeit bei Lwiw ein zweites Werk für zementbasierte Baustoffe wie Mörtel und Putze. Das Unternehmen Axor Industry aus Dnipro hat 2022 sein Werk für Fensterarmaturen ausgebaut. Der polnische Hersteller von Sanitärkeramik, Cersanit, will im Frühjahr 2023 eine weitere Produktionslinie für Keramikfliesen bei Schytomyr starten.
Die irische Kingspan hält an ihrem Vorhaben fest, in der Westukraine einen Cluster zur Produktion von Baumaterialien zu errichten, unter anderem für Mineralwolle und Metallprofile. Der Baustart für das Vorhaben ist für das 3. Quartal 2024 geplant.
Große Investitionsvorhaben sind auch bei Glas und Ziegelsteinen nötig. Berechnungen von Ukraine Invest zeigen, dass der Wiederaufbau der zerstörten Gebäude im Land einen Bedarf von 14 Milliarden Ziegelsteinen, 45 Millionen Quadratmetern Dachziegel und 3,9 Millionen Quadratmetern Glas erzeugt.
Projektbezeichnung / Region | Investitionssumme (in Mio. Euro) | Projektstand | Projektträger |
---|---|---|---|
Industriepark M10 Lviv / Lwiw, 60 km von der polnischen Grenze entfernt | 64 (davon 22 Millionen Euro von der Europäischen Wiederaufbaubank EBRD) | Erster Logistikkomplex soll im 2. Halbjahr 2023 fertig sein. | Dragon Capital Investment Limited |
Bau von zwei Werken für Trockenbaumischungen / Lwiw | 60 (davon 15 Millionen Euro bereits 2022 in Ausrüstungen und Baumaterial investiert) | Vor dem Krieg war geplant, den Bau bis 2024 abzuschließen. | |
Bau von 10 Anlagen zur Produktion von Biomethan und Biomethanol / verschiedene | 46 | Bis Ende 2023 fünf Biomethan-Anlagen geplant, die anderen im Jahr 2024. | |
Bau einer Fabrik für Haushaltskosmetik / Gebiet Kiew | 20 | Beginn der Bauarbeiten 2023, Werkseröffnung 2024 | |
Bau eines Solarparks (64 MW Leistung) und eines Energiespeichers (212 MW) / Region nicht genannt | k.A. | Machbarkeitsstudie bis Ende 2023, Baustart 2024 geplant | |
Produktionsstätte für Geräte zur Pulverbeschichtung von Metallen / Winnyzja | k.A. | Memorandum über die Zusammenarbeit wurde unterzeichnet. Der Bau soll in drei Etappen von 2023 bis 2025 durchgeführt werden. | |
Bau einer Abfüllanlage für 230 Millionen Flaschen Mineralwasser pro Jahr / Lwiw | k.A. | Baustart im Frühling 2023, erste Linie soll im Frühjahr 2024 in Betrieb gehen. | |
Müllverbrennungsanlage für gefährliche Abfälle (1.200 Tonnen/Jahr) / Stadt Kalusch, Gebiet Iwano-Frankiwsk | k.A. | Anfang März 2023 wurde Start der Umweltverträglichkeitsprüfung bekannt gegeben. | Investor: Ekobos Plus (Lwiw), Ministerium für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der Ukraine |
Wiederaufbau von Betrieben zur Tomatenverarbeitung / Gebiet Mykolajiw | k.A. | Projekt im Februar 2023 angekündigt. |