Der Staat fördert die Klimaneutralität der britischen Industrie, im Fokus stehen dabei energieintensive Industrien in Clustern, zum Beispiel Raffinerien und die Zementindustrie.
Im Vereinigten Königreich sind Industrie und Bauwirtschaft mit einem Anteil von rund 24 Prozent die zweitgrößten Emittenten von Kohlendioxid (CO2). Bis 2050 will die Regierung Nettoneuemissionen in diesen Sparten komplett vermeiden. Bereits bis 2035 sollen die industriellen CO2-Emissionen im Vergleich zum Basisjahr 2018 um 63 bis 76 Prozent sinken. Wegweisend dafür ist die 2021 verabschiedete Industrial Decarbonisation Strategy. Unter dem Strich aber spielt die Industrie in Großbritannien aufgrund des starken Dienstleistungssektors gesamtwirtschaftlich eine kleinere Rolle als vergleichsweise am Industriestandort Deutschland.
Dekarbonisierungsplan steht vor kritischer Phase
Die britische Industrie konnte bisher den gesetzlich vorgeschriebenen Zielkorridor des Dekarbonisierungsplans einhalten. Jedoch sieht der unabhängige Climate Change Council als Kontrollgremium in den Emissionen von 2021 eine leichte Verfehlung des anvisierten Ziels. Dabei befindet sich die Dekarbonisierung der Industrie an einem kritischen Punkt, wie das Gremium in seinem Bericht an das britische Unterhaus bemerkt. Denn ab 2024 sollen die Reduktionsziele noch strenger werden.
Im Zentrum der Regierungsmaßnahmen stehen vor allem Investitionen in Technologien und Infrastrukturen zur Speicherung, Lagerung und Nutzung von CO2 (Carbon Capture, Utilisation and Storage, CCUS). Damit baut das Königreich auf seine geologischen Speicherkapazitäten, die laut Regierungsangaben mit 78 Gigatonnen CO2 zu den weltweit größten gehören. Sie könnten die britischen Emissionen aus mehr als 200 Jahren aufnehmen.
Bis 2030 sollen darin jährlich bis zu 30 Millionen Tonnen CO2 gespeichert werden. Rund 10 Millionen Tonnen CO2 werden aus vier industriellen Hotspots abgeschieden, die in CCUS-Cluster transformiert werden. Dafür mobilisiert der Staat rund 1 Milliarde Pfund Sterling im CCUS Infrastructure Fund. Mit HyNet North West und dem East Coast Cluster stehen die ersten Cluster mit 36 Projektvorschlägen bereits in den Startlöchern.
Ausgewählte staatliche Investitions- und Forschungsförderprogramme
Ein weiterer Hebel zur Dekarbonisierung ist das Fuel Switching, also der industrielle Wechsel auf emissionsarme Energiequellen wie Wasserstoff und Bioenergie oder Strom. Flankiert wird der Hebel auch von Maßnahmen und Fördermitteln für Ressourcen- und Energieeffizienz und dem Forschungsrahmenprogramm Industrial Decarbonisation Challenge.
Britische Raffinerien setzen auf CCUS-Lösungen
Britische Erdölraffinerien sind die stärksten CO2-Emittentinnen der Industrie. Sie haben die drittgrößte Treibhausgasintensität im verarbeitenden Gewerbe. Im Fokus der Branche stehen sechs großen Raffinerien, die vor allem auf den Einsatz von CO2-Abscheidetechnologien setzen.
CO2-Emissionen in ausgewählten britischen Industriebranchen (2020)Industriebranche | Anteil an den CO2-Emissionen im verarbeitenden Gewerbe (in %) | Rang | Treibhausgasintensität 1) | Rang |
---|
Erdölraffinerien | 16,7 | 1 | 4,2 | 3 |
Eisen- und Stahlherstellung | 16,1 | 2 | 4,5 | 1 |
Zementherstellung | 9,1 | 3 | 2,7 | 4 2) |
Petrochemische Industrie | 8,3 | 4 | 2,1 | 5 |
Glas-, Porzellan- und Keramikproduktion | 3,7 | 5 | 1,4 | 7 |
Industriegase | 2,5 | 9 | 4,3 | 2 |
1 Anzahl CO2-Äquivalente in 1.000 Tonnen pro Millionen Pfund Sterling Bruttowertschöpfung; 2 einschließlich anderer nichtmetallischer mineralischer Produkte wie Kalk.Quelle: Department for Business, Energy & Industrial Strategy 2022
Die Prax-Gruppe investiert rund 300 Millionen Pfund in ihre Raffinerie am nordostenglischen Fluss Humber, um schon ab 2028 jährlich rund 85 Prozent der CO2-Emissionen einsparen zu können. Die Anlage liegt in dem am meisten CO2-verursachenden Industriecluster des Landes und wird mithilfe staatlicher Investitionen massiv dekarbonisiert. Über die Pipeline des East Coast Cluster soll das von Prax gebundene CO2 in einer Lagerstätte in der Nordsee eingespeichert werden. Die nahegelegene Raffinerie des US-Unternehmens Phillips 66 plant ebenfalls eine CO2-Abscheidung, die 2027 beginnen könnte.
Die größte Raffinerie des Landes in der Nähe von Southhampton, betrieben vom US-Riesen ExxonMobil, schlägt ein Projekt zur Erzeugung von blauem Wasserstoff vor. Das Vorhaben steht in Zusammenhang mit der Bewerbung eines Konsortiums unter Beteiligung von Exxon für ein CCUS-Cluster am südenglischen Solent.
Zementindustrie benötigt regionale Förderungen
Die Zementindustrie will entlang der UK Concrete Roadmap to Beyond Net Zero bis 2050 einen Großteil ihrer Emissionseinsparungen, die sich auf 61 Prozent belaufen sollten, durch CCUS-Lösungen erreichen. So erwartet der zum deutschen Heidelberg Materials-Konzern gehörende Hersteller Hanson UK eine Förderzusage für eine geplante 400 Millionen Pfund Sterling teure CCS-Investition im HyNet-Cluster.
Einige Hersteller, wie die Tarmac-Standorte in Südwales und Schottland, könnten von weiteren CCUS-Clusterinitiativen profitieren. Wegen dezentraler Lagen einiger Firmen können aber nicht alle aus der geplanten CCUS-Infrastruktur Nutzen ziehen. Der Branchenverband Minerals Products Association fordert zusätzliche Unterstützung der Regierung für regionale Zementwerke, auch um ausländische Investoren bei der Stange zu halten.
Britischer Forschungsdurchbruch: Bauschutt wird zu emissionsfreiem ZementIm Pilotprojekt „Cement 2 Zero“ entwickelt die Forschungsinitiative „Cambridge Electric Cement“ einen emissionsfreien Prozess, um recycelten Zement herzustellen. Dafür wird zerkleinerter Beton aus Bauschutt separiert, beim Stahlrecycling im Lichtbogenofen mitgebrannt und aus dem Schlack neu zu hochwertigem Zement verarbeitet. Bis August 2024 soll die Forschung am Prozess abgeschlossen sein, um ihn in der Industrie einsetzen zu können.
Die Initiative wird mit einer 6,5 Millionen Pfund Sterling schweren staatlichen Forschungsförderung unterstützt. Dafür kooperieren das Materials Processing Institute im nordostenglischen Middlesbrough mit der Patentinhaberin an der Universität Cambridge und Industriepartnern entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Dazu gehören die Unternehmen Tarmac, CELSA, Balfour Beattie, Atkins und Days Aggregates. |
Nennenswerte Innovationen zeigt die Branche mit emissionsarmen Zementmixen, neuen Betonmischungen im Straßenbau und emissionsfreiem Recyclingzement (siehe Infobox). „Wir konnten in einem Forschungsprojekt nachweisen, dass Wasserstoff und Biomasse im Energiemix bei der Zementherstellung sehr gut einsetzbar sind“, erklärt Diana Casey, Direktorin beim Branchenverband Minerals Products Association. An dem Projekt war auch der Verein Deutscher Zementwerke beteiligt.
Stahlindustrie hinkt hinterher
In der britischen Stahlindustrie stockt die Dekarbonisierung massiv. Wirtschaftliche Probleme führen zu Entlassungen. Bisher ist noch nicht abzusehen, wann der mit 250 Millionen Pfund Sterling bereits budgetierte Green Steel Fund geöffnet wird. Der Think Tank ECIU sieht die britische Stahlindustrie im Vergleich zu den europäischen Wettbewerbern im Hintertreffen. Der Branchenverband UK Steel beklagt die hohen britischen Energiepreise und den fehlenden Schutz des Binnenmarktes vor emissionsstarken Stahlimporten.
Im einzigen großen derartigen Projekt der Branche erprobt British Steel im nordostenglischen Teesside den Einsatz von Wasserstoff in der Produktion. Ist das Projekt erfolgreich, könnte der neue Prozess am südlicheren Produktionsstandort am Humber zum Einsatz kommen. Dort erhielt das Unternehmen eine Großbestellung für das CO2-Abscheideprojekt des Energieerzeugers Drax.
(Stand 05.04.2023)
Von Marc Lehnfeld
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London