Special Baltische Staaten Stromübertragung, -verteilung, Netze
Baltische Staaten wollen Abkopplung von Russland beschleunigen
Das baltische Stromnetz ist Teil des russischen BRELL-Systems. In der Region laufen eine Reihe von Projekten, um die Länder mit dem europäischen Verbundsystem zu synchronisieren.
15.08.2022
Von Niklas Becker | Helsinki
Das Energieversorgungsnetz der drei baltischen Staaten ist aus historischen Gründen Teil des russischen und belarussischen Systems, bekannt als BRELL-System. Die Frequenz, der wichtigste Parameter eines Stromsystems, wird von Russland kontrolliert. Estland, Lettland, Litauen und die Europäische Union planen daher bereits seit Langem, das baltische Netz an das europäische Verbundsystem anzuschließen und es vom russischen Stromsystem abzukoppeln.
Im Juni 2018 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der drei baltischen Länder und Polens eine gemeinsame politische Wegskizze mit der Europäischen Kommission. Diese definierte den Prozess für die Synchronisierung. Laut dem Strategiepapier soll die Synchronisierung des baltischen Systems mit dem europäischen Netz Ende 2025 abgeschlossen sein.
Estland | Lettland | Litauen | |
---|---|---|---|
Jährlich produzierte Elektrizität (in Terawattstunden) | 5,6 | 5,7 | 5,5 |
Anteil der Stromproduktion auf Grundlage von Erdgas (in Prozent) | 0,5 | 36,2 | 30,8 |
Anteil der Stromproduktion auf Grundlage von Kohle* (in Prozent) | 53 | 0 | 0 |
Anteil der Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen (in Prozent) | 43,5 | 63,8 | 59,5 |
Anteil Wasserkraft (in Prozent) | 0,6 | 45,5 | 19,6 |
Anteil Windkraft (in Prozent) | 15 | 3,1 | 28,1 |
Anteil Biokraftstoffe (in Prozent) | 25,9 | 15,1 | 9,5 |
Spannung der Höchstspannungsleitung beim Übertragungsnetzbetreiber (in Kilovolt) | 330 | 330 | 330 |
Notfallplan steht
Aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine soll das Vorhaben nun beschleunigt und bereits vor 2025 abgeschlossen werden. Darauf einigten sich die drei baltischen Staaten Anfang März 2022. Litauen bringt das 1. Halbjahr 2024 als neues Datum für die Abkopplung ins Gespräch. Laut lettischer Wirtschaftsministerin Ilze Indriksone wären für die beschleunigte Desynchronisierung zwar zusätzliche Gelder nötig. Allerdings würde dies die Stromversorgung in den drei baltischen Staaten schon jetzt sicherer machen.
Sollte Russland die Verbindung mit den baltischen Staaten bereits früher trennen, wäre es möglich, das baltische Netz binnen 24 Stunden mit dem europäischen zu synchronisieren. Das berichtete der litauische Übertragungsnetzbetreiber Litgrid Mitte Juli 2022. Fehlende Infrastrukturausbauten dürften jedoch zu höheren Strompreisen führen. Litauen und Polen führten im Dezember 2021 erstmals einen Test des Synchronbetriebs durch. Der erfolgreiche Test zeigt, "dass wir im Notfall mithilfe der polnischen Partner den unterbrechungsfreien Betrieb des Stromsystems des Landes sicherstellen können", berichtete Litauens Energieminister Dainius Kreivys.
Europäische Fördergelder in Milliardenhöhe
Für die Synchronisierung des baltischen Energieversorgungsnetzes mit dem europäischen Netz sind insgesamt 1,6 Milliarden Euro veranschlagt. Die EU beteiligt sich mit 75 Prozent an den Kosten. Das Vorhaben ist in zwei Phasen aufgeteilt. Die erste Phase umfasst den innerstaatlichen Netzausbau der drei baltischen Staaten. Dafür sind Ausgaben von 430 Millionen Euro eingeplant.
Die 1,2 Milliarden Euro teure zweite Phase des Projekts beinhaltet vor allem den Aufbau einer Gleichstromverbindung zwischen Litauen und Polen mit entsprechender Netzverstärkung in den beiden Ländern. Die Übertragungsnetzbetreiber aus Estland, Lettland, Litauen und Polen haben Anfang Juni 2022 mit der EU eine Finanzhilfevereinbarung für den zweiten Teil der zweiten Projektphase unterzeichnet. Sie sichert den Ländern europäische Fördergelder in Höhe von 170 Millionen Euro zu.
Baltische Staaten beenden Stromimport aus Russland
Für die baltischen Länder hat neben dem mit Russland synchronisiertem Stromnetz auch der Import von Strom aus Russland in der Vergangenheit eine Rolle gespielt. Nach Angaben des lettischen Übertragungsnetzbetreibers AST belief sich der Anteil der aus Russland importierten Elektrizität am gesamten baltischen Stromverbrauch 2021 auf 16 Prozent. Im Mai 2022 waren es noch 10 Prozent. Seit dem 22. Mai 2022 ist die Stromeinfuhr aus Russland nach Estland, Lettland und Litauen aufgrund einer gemeinsamen Entscheidung der baltischen Länder ausgesetzt.
Litauen beispielsweise hatte den Import von Strom aus Russland bereits in den vergangenen Jahren schrittweise reduziert. Das zeigen Daten von Litgrid. Demnach war Russland 2021 mit rund 2 Terawattstunden importiertem Strom zwar noch drittwichtigstes Bezugsland für Litauen. Im Jahr 2020 war die importierte Strommenge allerdings noch doppelt so hoch. Bereits damals wurde ein Rückgang der eingeführten Elektrizität um fast 50 Prozent verzeichnet.
Doch auch bei ausbleibenden Stromimporten aus Russland besteht für die baltischen Staaten eine Abhängigkeit. Denn sie sind noch auf das BRELL-System angewiesen, um die Frequenz stabil zu halten. Zu starke Frequenzschwankungen führen im schlimmsten Fall zu Schäden in den Kraftwerken.
Neue Interkonnektoren mit Schweden, Finnland und Polen geplant
Das baltische Stromnetz verfügt derzeit über vier Verbindungen mit europäischen Stromnetzen: EstLink 1 und 2 führen von Estland nach Finnland. Litauen ist via NordBalt mit Schweden und via LitPol Link mit Polen verbunden. Insgesamt verfügen die vier Verbindungen über eine installierte Gesamtleistung von 2.200 Megawatt. Nach Angaben des lettischen Übertragungsnetzbetreiber AST entspricht dies etwa der Hälfte der maximalen baltischen Stromverbrauchskapazität im Winter.
Unterseekabel von Litauen nach Polen kommt verspätet
Herzstück der Synchronisierung der baltischen und europäischen Energieversorgungsnetze ist ein neues direktes Unterseekabel von Litauen nach Polen namens Harmony Link. Die 330 Kilometer lange Stromverbindung wird eine Kapazität von 700 Megawatt haben. Es ist das teuerste Vorhaben zur Synchronisierung der Netze: Von den insgesamt vorgesehen 1,6 Milliarden Euro sind fast 700 Millionen Euro für Harmony Link eingeplant.
Angedacht war, die neue Verbindung 2025 in Betrieb zu nehmen. Anfang Juli 2022 wurde jedoch bekannt, dass sich die Fertigstellung um zwei bis drei Jahre verschieben wird. Grund dafür ist die weltweit gestiegene Nachfrage nach Elektrokabeln. Wie Roko Masiulis, Geschäftsführer des litauischen Übertragungsnetzbetreiber Litgrid, berichtet, hat der russische Angriff auf die Ukraine die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen auf der ganzen Welt stark beschleunigt. Um diese neuen Quellen anzuschließen, werden Elektrokabel benötigt. Die spätere Fertigstellung des Harmony Link-Interkonnektors wird den Synchronisierungsprozess der baltischen und europäischen Energieversorgungsnetze laut Masiulis jedoch nicht beeinträchtigen.