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Wirtschaftsumfeld | Georgien | EU-Beitritt

EU stellt Georgien perspektivischen Kandidatenstatus in Aussicht

Georgiens Traum vom schnellen EU-Kandidatenstatus ist wohl geplatzt. Das Land hat jedoch Chancen, auf den Zug aufzuspringen. Jetzt muss Georgien wichtige Reformen angehen.    

Von Uwe Strohbach | Tiflis

Die Ukraine und Moldau sollen Beitrittskandidaten der Europäischen Union (EU) werden. Georgien muss für diesen Schritt noch Hausaufgaben erledigen. So lautet die Empfehlung der EU-Kommission zu den Anträgen auf EU-Mitgliedschaft der drei osteuropäischen Bewerber. Die Entscheidung der 27 EU-Länder zum Status soll in wenigen Tagen fallen.

Ob die Staats- und Regierungschefs gegen den Kandidatenstatus Georgiens stimmen werden, ist mit Fragezeichen versehen. Mehrere Staatsoberhäupter und Parlamente, darunter der Länder Estland, Finnland, Irland und Rumänien, haben sich zuletzt klar für den Status als offizieller Beitrittskandidat ausgesprochen. Ihr Standpunkt: Warum sollte Georgien anders behandelt werden als die Ukraine und die Republik Moldau? Es gibt zudem auch Vorbehalte einiger EU-Länder gegen die politisch motivierte Anerkennung des Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau.   

Beachtliche Bilanz sichtbarer Reformerfolge     

Die EU-Kommission empfiehlt die Einstufung Georgiens als "potenzieller Beitrittskandidat", aber nicht den offiziellen Kandidatenstatus. Sie knüpft die Gewährung dieses Status an die Erfüllung von Auflagen für den weiteren Demokratisierungs- und Reformprozess im Land.

Die Stellungnahme der EU-Kommission wird in Georgien kontrovers diskutiert. Es gibt große Zustimmung, aber auch scharfe Kritik. Die Kritiker verweisen auf die Reformerfolge und die pro-europäische Einstellung der Bevölkerung. Die Zustimmungswerte der Georgierinnen und Georgier für einen EU-Beitritt liegen bei etwa 80 Prozent, zeigen aktuelle Umfragen. Die kritische Sicht auf die Empfehlung der EU-Kommission hat auch eine politische Komponente. Die Kritiker verbinden den erhofften Kandidatenstatus Georgiens mit einer klaren Botschaft an die russische Regierung, die freie und pro-europäische Entwicklung Georgiens nicht zu torpedieren.

Georgien hat in der Tat viele Reformen zur Verbesserung des Investitionsklimas und zur Förderung des Wirtschaftswachstums auf den Weg gebracht. Die Wirtschaft ist liberal und offen. Das Land betreibt eine dem Freihandel verpflichtete Außenwirtschaftspolitik und bietet dank des Freihandelsnetzwerks Zugang zu einem vielfach größeren Markt. Es offeriert Unternehmen und Selbständigen eine niedrige Steuerbelastung und verfügt über einen stabilen und liquiden Finanzsektor. Die Korruptionswahnehmung ist vergleichsweise gering.

Chronologie der Freihandelsabkommen Georgiens

Jahr der Inkraftsetzung

Partnerland/-länder

1994

Russische Föderation

2000

Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan

2007

Türkei

2014/2016

Europäische Union, Großbritannien (Vertiefte und umfassende Freihandelszone/DCFTA) 

2016

Norwegen und Island

2017

China

2018

Schweiz, Liechtenstein und Hongkong

(2019 bis 2022)

Machbarkeitsstudien und/oder andere Vorbereitungen für Abkommen mit Indien, Israel, Japan, Serbien, Südkorea, den USA und der VAE

Quelle: Recherchen von Germany Trade & Invest

Viele Regelwerke und Standards wie Ursprungsregeln oder Produkt-, Sicherheit- und Hygienstandards sind schon gänzlich oder teilweise an die Regularien der EU angepasst. Unter den Ländern der Östlichen Partnerschaft, die 2009 für Staaten ohne reale Beitrittsperspektive gegründet worden war, nimmt Georgien bei der Liberalisierung des Handels mit der EU eine Vorreiterrolle ein.

Die kleine Kaukasusrepublik zieht alljährlich beachtliche ausländische Direktinvestitionen an. Das Land erzielte erste, wenn auch noch nicht ausreichende Erfolge bei der Diversifizierung seiner Wirtschaft. Hierzu leistet das 2014 gestartete und in den Folgejahren erweiterte Programm der öffentlichen Wirtschaftsförderung Enterprise Georgia (Produce in Georgia) einen wesentlichen Beitrag. Georgien belegt in einer Reihe internationaler Wettbewerbs- und Geschäftsklima-Rankings vordere oder akzeptable Ränge.

Refomdefizite und Rückschläge bei der Rechtsstaatlichkeit

In den letzten Jahren beobachten Marktkenner eine Verlangsamung des Reformtempos. Angekündigte Reformen im Justizwesen oder bei der Umstrukturierung und Transformation von Staatsbetrieben blieben aus oder wurden nur halbherzig angegangen. In der rechtsstaatlichen und demokratischen Entwicklung des Landes seien Rückschläge zu beobachten, so in den Bereichen Gerichtswesen, Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Medien und Schutz der Rechte von Minderheiten. Die unzureichende Bekämpfung oligarchischer Strukturen in der Wirtschaft verhindert ein inklusiveres, nachhaltiges und exportgetriebenes Wachstum.

Auflagen der EU-Kommission weisen Weg zur Erlangung des Kandidatenstatus

Die EU-Kommission sieht für die Erlangung des Kandidatenstatus Handlungsbedarf in zwölf Feldern. Sie will Ende 2022 einen ersten Bericht über die Erfüllung der Auflagen vorlegen. 

Auflagen der EU-Kommission für den Erhalt des Kandidatenstatus (Kernpunkte)
  • Überwindung der politischen Polarisierung durch parteiübergreifende Zusammenarbeit im Geiste des von EU-Ratspräsident Charles Michel vermittelten und am 19. April 2021 zwischen Regierung und Op­position verabschiedeten Abkommens,
  • Gewährleistung der vollständigen Funktion staatlicher Institutionen und Stärkung ihrer Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht,
  • Verabschiedung und Umsetzung einer transparenten und effektiven Strategie für eine Justizreform (Errichtung eines unabhängigen Gerichtssystems, Reform der Hauptkoordinierungsstelle der georgischen Justiz, des Hohen Rates der Justiz),
  • Stärkung der Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörde und zielgerichteter Ausbau des neuen   Sonderermittlungsdienstes und des Dienstes für den Schutz personenbezogener Daten sowie die Sicherstellung der institutionellen Unabhängigkeit beider Behörden,
  • Umsetzung von Maßnahmen für die so genannte Deoligarchisierung zur Überwindung des übermäßigen Einflusses persönlicher Interessen von Großunternehmern auf das wirtschaftliche, politische und soziale Leben,
  • stärkere Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf der Grundlage detaillierter Bedrohungsanalysen und Sicherstellung der Kontrolle und Rechenschaftspflicht der Strafverfolgungsbehörden,
  • Intensivierung der Aktivitäten zur Gewährleistung eines freien, professionellen, pluralistischen und unabhängigen Medienumfelds,
  • beschleunigte Implementierung von Maßnahmen für den Schutz der Menschenrechte schutzbedürftiger Gruppen, unter anderem durch eine wirksamere Strafverfolgung von Gewalttätern und -anstiftern, 
  • Intensivierung der Bemühungen zur Stärkung der Gleichstellung der Geschlechter und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen,
  • Gewährleistung der Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen,
  • Änderung der Gesetzgebung im Interesse der Berücksichtigung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Rechtsverfahren durch die georgischen Gerichte,
  • Sicherstellung eines transparenten Verfahrens für die Ernennung unabhängiger Kandidaten als Pflichtverteidiger (Ombudsmann)

Vollständige Integration in die EU bleibt langfristiges Ziel 

Der politische Wille der Regierung, der Europäischen Union beizutreten, ist und bleibt ungebrochen. Die Integration in die EU ist in der Verfassung verankert und genießt in der strategischen Ausrichtung des Landes eine hohe Priorität. Es ist davon auszugehen, dass die Regierung ihre Reformen wieder aktivieren und Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien entgegenwirken wird.

Bedeutende Meilensteine in den Beziehungen zwischen der EU und Georgien

Jahr

Aktivität

1999

Inkraftsetzung des Partner- und Kooperationsabkommen (PCA) mit Fokus auf die marktwirtschaftliche Entwicklung und Förderung von Handel und Investitionen

2004

Aufnahme Georgiens in die Initiative Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) und in das Allgemeine Zollpräferenzsystem GSP+  

2006

Verabschiedung des ENP-Aktionsplans für Georgien (Schwerpunktfelder: Geschäfts- und Investitionsklima, nachhaltige Entwicklung, Transport/Energie und regionale Zusammenarbeit);  seit 2007 Finanzierung durch das ENP-Instrument/ENPI und seit 2008 auch durch die Nachbarschaftsinvestitionsfazilität/NIF)

2007

Einbindung Georgiens in die Schwarzmeerinitiative für den Ausbau der Regionalkooperation in den Sektoren Energie, Transport, Umwelt, Mobilität und Sicherheit

2009

Einbindung Georgiens in die ENP-Regionalinitiative Östliche Partnerschaft für eine tiefere Kooperation und Integration mit Fokus auf Freihandel, Energiesicherheit und Regionalentwicklung

2014

vorläufige Anwendung und ab 2016 vollständige Inkraftsetzung des Assoziierungsabkommen EU-Georgien (Vertiefte und umfassende Freihandelszone)

2017

Beitritt Georgiens zur EU-Energiegemeinschaft als vollwertiges Mitglied

2021

Verabschiedung des Finanzplans für die Östliche Partnerschaft für 2021 bis 2027 – Planung für Georgien: mindestens 3,9 Milliarden Euro, darunter Subventionen in Höhe von bis zu 1,2 Milliarden Euro

2022 (März)

Einreichung eines Antrag bei der EU-Kommission auf Aufnahme als Mitglied in der EU

2022 (April)

Billigung der Empfehlung zum Beitritt Georgiens zum einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum (SEPA) durch den EU-Integrationsausschuss

2022 (Juni)

Stellungnahme der EU-Kommission zum EU-Mitgliedsantrag Georgiens, Empfehlung: "potenzieller Beitrittskandidat"

Quelle: Recherchen von Germany Trade & Invest

Der Vorsitzende der regierenden Partei Georgischer Traum, Irakli Kobachidse, bezeichnet die Auflagen der EU-Kommission als „konkreten Wegweiser für die Erlangung des Kandidatenstatus“. Die Präsidentin Georgiens, Salome Surabischwili, schlägt als Reaktion auf den Forderungskatalog die Gründung einer unabhängigen Reformkommission vor. Diese soll die erforderlichen Reformschritte beschleunigen.

Darüber hinaus dürfte die Umsetzung der im Regierungsprogramm für die Jahre 2021 bis 2024 geplanten wirtschaftsfördernden Maßnahmen und Reformen zur Erhöhung der Attraktivitär des Wirtschaftsstandortes Georgien beitragen.

Dazu gehören unter anderem:

  • tiefgreifende Reform staatseigener Unternehmen,
  • Umbau des aktuellen Systems von Steuerleichterungen zu einem wettbewerbsfördernden Steuersystem und die Optimierung der Steuerverwaltung,
  • Optimierung, Rationalitätssicherung und Schaffung eines umfassenden Managements im Bereich der öffentlichen Investitionen,
  • Erhöhung der Effektivität staatlicher Wirtschaftsprogamme,
  • Verabschiedung eines EU-konformen Gesetzes über Unternehmen,
  • Fortsetzung der Reformen und Liberalisierung in der Energiewirtschaft.
Kontaktadressen für die Finanzierung oder Kofinanzierung georgischer Projekte durch die EU und führende europäische Geberbanken

Förderprogramm / Projekt

Finanzierungsträger / Anlaufstelle

EU-Förderprogramme allgemein

EU-Delegation in Georgien

EU-Regionalprogramm Östliche Partnerschaft / Portal der EU-Nachbarländer; Schwerpunkte in Georgien: Agrarsektor, ländliche und Regionalentwicklung, Energieeffizienz, Tourismus, Bildung, Kreativwirtschaft, Verwaltungsreform

Europäischer Auswärtiger Dienst, Ressort Östliche Nachbarschaft, Regionalprogramm Östliche Nachbarschaft

Finanzierung/Kofinanzierung von Projekten durch die EBRD; aktuelle Schwerpunkte: KMU-Projektfinanzierung, Gesundheit (medizinische Dienste/Krankenhäuser), energetische Gebäudesanierung, Programm Green City (Beschaffung von Bussen und Modernisierung von Metro-Stationen), Straßenbau, Bahnmodernisierung, kommunales Abfallmanagement

Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Regionalbüro Georgien

Finanzierung/Kofinanzierung von Projekten durch die EIB; aktuelle Schwerpunkte: Gesundheitswesen (Beschaffung von Medizintechnik, Aus-/Weiterbildung, Bekämpfung des Coronavirus), Autobahnbau, schnelles Internet, KMU-Projektfinanzierung

Europäische Investitionsbank (EIB), Regionalbüro Georgien


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