Markets International 3/24 I Kanada I Dekarbonisierung
Kanada setzt auf Nettonull
Das Land hat sich für 2050 ehrgeizige Klimaziele gesetzt. Die Umsetzung wird hart – für alle Beteiligten.
09.07.2024
Von Heiko Steinacher | Toronto
In Ontario sind drei Batteriefabriken geplant. „Die werden so viel Strom verbrauchen wie die Großstadt London in der gleichnamigen Provinz“, sagte Chuck Farmer vom regionalen Verteilnetzbetreiber Ieso auf dem Globe Forum 2024 in Vancouver. Farmer stellt klar: Kanadas Netz auszubauen und mit Strom aus emissionsfreien Quellen zu betreiben, wird eine Herkulesaufgabe.
Es geht nicht nur darum, den Verkehr zu elektrifizieren, sondern gleich ganze Industrien und obendrein den Gebäudesektor. Zwar sind mehr als 80 Prozent des kanadischen Strommixes bereits CO₂-neutral. Dennoch muss das riesige Land angesichts des zu erwartenden Energiehungers die Kapazität seines Stromnetzes mindestens verdoppeln – und die Kohleverstromung komplett durch emissionsfreie Quellen ersetzen. Mission Impossible? Ein wenig fühlt es sich so an. Aber Kanada ist ehrgeizig, will bis 2050 klimaneutral sein. Das erfordert eine Dekarbonisierung der gesamten Wirtschaft.
Markets International Ausgabe 3/24
Markets International 03/24Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Markets International, Ausgabe 3/2024. Erfahren Sie, welche weitere Beiträge die Ausgabe für Sie bereit hält.
Kein klarer Technologiefavorit
Eine klare Technologiepräferenz gibt es nicht. In einer interaktiven Umfrage bei einer Diskussionsrunde auf dem Globe Forum erwartete knapp ein Fünftel der Anwesenden, dass Wasserkraft die Hauptrolle bei der Energiewende spielen wird. Mit rund 60 Prozent am Strommix steht sie schon jetzt in Kanada an erster Stelle. Zunehmen sollen laut Modellrechnungen der kanadischen Behörde für Energieregulierung aber vor allem die Kapazitäten bei Wind- und Solarenergie: bis 2050 um 100 bis 150 Gigawatt. Das bietet Projektentwicklern für erneuerbare Energien vielfältige Geschäftschancen – auch deutschen Unternehmen.
Knapp ein Drittel der Experten sah in der Umfrage die Führungsrolle bei der Atomkraft. Wie in den USA gilt diese in Kanada als grüne Energie und soll einen Teil der Lücke schließen, die sich mit dem Ausstieg aus fossilen Energieträgern ergibt. Das Land will seine Reaktoren umfassend modernisieren. Zusätzlich müssen Speicherkapazitäten, Interkonnektoren und provinzübergreifend Netze ausgebaut werden, um flexibel auf schwankenden Bedarf reagieren zu können.
Wasserstoff (H2) spielt für Kanadas Klimaschutzziele eine Schlüsselrolle – nicht nur für Schwerlasttransporte, sondern auch in Form von Ammoniak als Energieträger für H₂. Bis 2050 will Kanada einer der drei größten Wasserstoffproduzenten weltweit sein und könnte künftig ein bedeutender Exporteur werden. Deutschen Herstellern von Elektrolyse- und Brennstoffzellentechnik eröffnen sich hier gute Marktchancen, zumal die Bundesrepublik und Kanada 2022 eine Wasserstoffpartnerschaft und im März 2024 als Teil davon eine Absichtserklärung über ein gemeinsames Finanzierungsfenster für H₂-Exportprojekte geschlossen haben. Vor allem die Provinzen Ostkanadas verfügen über ein großes Potenzial an grünem H₂. Mehrere Unternehmen treiben dort bereits Projekte voran. Darunter auch ABO Wind: Das deutsche Unternehmen bekam im August 2023 den Zuschlag für ein Fünfgigawattprojekt in Neufundland und Labrador: Hier entsteht ein Windpark mit angeschlossener Wasserstoff- und Ammoniakproduktion.
Wasserstoff als Heilmittel
Ländercheck KanadaIn der Eisen-, Stahl-, Zement- und Chemieindustrie spielt Wasserstoff künftig ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Öl- und Gassektor verursacht gut ein Viertel der Treibhausgasemissionen, die Schwerindustrie weitere elf Prozent. Ohne eine Dekarbonisierung dieser Sektoren wird das Land die angestrebte CO₂-Neutralität bis 2050 kaum erreichen. Produzenten chemischer Grundstoffe auf Erdöl- und Erdgasbasis haben bereits erste große Vorhaben zur Dekarbonisierung angekündigt: So zieht der US-Chemiekonzern Dow in Fort Saskatchewan, Alberta, einen emissionsfreien Ethylen- und Derivatekomplex hoch. Die Stahlindustrie wiederum legt erste Hochöfen still und ersetzt sie durch wasserstoffbetriebene Direktreduktionsanlagen und Lichtbogenöfen.
Da Kanada weiterhin Erdgas verstromen will, soll das freigesetzte Kohlendioxid abgespalten und gespeichert oder verwendet werden (Carbon Capture, Utilisation and Storage, kurz: CCUS), um Nettonullemissionen zu erreichen. Auch in Schwerindustrien spielen CCUS-Technologien eine wichtige Rolle. „Wir konzentrieren uns derzeit auf die Zementindustrie“, sagte Madison Savilow von Carbon Upcycling gegenüber GTAI am Rande des Globe Forum. Das Techunternehmen aus Calgary nutzt mineralisiertes CO₂ als Rohstoff für Klinkerersatz in der Zementindustrie. „Diese Materialien verringern den CO₂-Fußabdruck in der Zementproduktion und sind gleichzeitig leistungsstärker.“ Der Erfolg gibt Carbon Upcycling recht. „Wir unterhalten Partnerschaften mit einer Reihe von Zementunternehmen, unter anderem mit Cemex und der Cement Roadstone Holding“, sagte Savilow. „Außerdem eröffnen wir ein Büro in Deutschland und weiten unsere Aktivitäten auf Europa aus.“
"Kanada bietet ein riesiges Potenzial für nachhaltige Energie"
Drei Fragen zum Markt an Heiko Steinacher, GTAI Toronto
Wie entwickelt sich Kanadas Wirtschaft in diesem Jahr?
Bis Ende 2024 wird sie kaum zulegen. Erst danach dürfte das Land wieder auf einen stabilen Wachstumspfad zurückkehren.
Welche sind die größten Zukunftsmärkte?
Kanada bietet ein riesiges Potenzial für nachhaltige Energie, gerade im Osten auch in Verbindung mit grünem Wasserstoff. Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels und Technologien zur Elektrifizierung und damit Dekarbonisierung stehen generell hoch im Kurs. Dank seiner Vorkommen an kritischen Mineralien bietet Kanada die Voraussetzungen zum Aufbau einer kompletten regionalen Lieferkette für E-Auto-Batterien – gekoppelt mit dem Verbrenner-Aus ab 2035, dürfte dieser Bereich in den nächsten Jahren erhebliche Investitionen anziehen.
Bei der Gebäudeeffizienz hat Kanada noch Luft nach oben. Ergibt sich daraus Potenzial für deutsche Firmen?
Deutsche Unternehmen können hier mit ihrem guten Ruf punkten. Kanada holt zwar in Bereichen wie Bautechnik und nachhaltige Energiesysteme auf, hinkt europäischen Energieeffizienzstandards aber immer noch hinterher.