Wirtschaftsumfeld | Lettland | Wirtschaftsstruktur
Lettlands Wirtschaftsstruktur ist im Wandel
In Lettland wird die Suche nach Mitarbeitern für immer mehr Firmen eine Herausforderung. Deutsche Investoren vor Ort zeigen, wie sie das Problem angehen.
10.07.2024
Von Niklas Becker | Helsinki
Lettlands Wirtschaft hat seit dem EU-Beitritt 2004 eine enorme Entwicklung durchlaufen. Preisbereinigt stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 2004 und 2023 um rund 50 Prozent. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt waren es 27 Prozent. Die Wirtschaftsleistung der beiden Nachbarländer Estland (52,8 Prozent) und Litauen (73,7 Prozent) wuchs noch deutlicher. Ein Bild, das sich bei vielen wirtschaftlichen Rankings bietet: Lettland landet im baltischen Vergleich auf dem 3. Platz. So auch beispielsweise beim European Innovation Scoreboard: Estland belegt im EU-Vergleich Platz 12, Litauen Platz 19 und Lettland Platz 25.
Eine Ausnahme ist die Bedeutung der erneuerbaren Energien. Hier zählt Lettland zur europäischen Spitzengruppe. Im Jahr 2022 deckte das Land - dank seiner großen Wasserkraftkapazitäten - mehr als 40 Prozent seines Energieverbrauchs durch Erneuerbare und belegte so Platz 3 im EU-Ranking. In Anbetracht des lettischen Potenzials könnte der Anteil grüner Energie zukünftig noch deutlich größer ausfallen. Denn das baltische Land zählt zu den Ostseeanrainern mit dem größten Potenzial für Offshore-Windenergie. Nach Einschätzung der EU-Kommission könnten Anlagen mit einer Gesamtkapazität von bis zu 14,5 Gigawatt in der lettischen Ostsee installiert werden. Zum Vergleich: Für Deutschland beziffert die Kommission das Ostsee-Potenzial auf 8 Gigawatt.
Lettlands Offshore-Sektor befindet sich noch in einem sehr frühen Stadium. Die Gesetzgebung wird konkretisiert. Gelingt das Vorhaben, könnte die lettische Stromerzeugung die Inlandsnachfrage übersteigen. Das baltische Land wäre damit ein potenzieller Wasserstofflieferant für Deutschland. Dabei kommt Lettland aber nicht nur als Energielieferant infrage. Aufgrund der geografischen Nähe, der EU-Mitgliedschaft sowie im Vergleich zu Deutschland günstigeren Arbeitskosten sollten deutsche Firmen Lettland auch als Beschaffungsmarkt, beispielsweise für Vorerzeugnisse, in Betracht ziehen.
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Suche nach Arbeitnehmern treibt Firmen um
Der Fachkräftemangel in Lettland bleibt für die Unternehmen vor Ort eine große Herausforderung. Verstärkt wird er durch eine weiterhin hohe Zahl an Auswanderern. Auch in Lettland tätige deutsche Unternehmen sind betroffen. Das zeigt die Konjunkturumfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK Baltikum). Aus Sicht der befragten deutschen Investoren ist die "Verfügbarkeit von Fachkräften" das zweitschlechteste von insgesamt 25 Standortkriterien. Im Schnitt erhielt es die Schulnote 3,3. Nur das lettische Berufsbildungssystem schnitt mit 3,4 noch schlechter ab. Jedes zweite Unternehmen nannte den Fachkräftemangel zudem als Risiko für die zukünftige Unternehmensentwicklung.
Eine Lösung für den Fachkräftemangel in Lettland könnte eine Änderung der Migrationspolitik sein. Rund 47 Prozent der befragten deutschen Investoren sind der Ansicht, dass dies den Arbeitskräftemangel beheben könnte. Deutsche Unternehmen verfolgen unterschiedliche Strategien, um das Problem zu bewältigen. Immer mehr setzen auf verstärkte Automatisierung und Digitalisierung. Auch der Ausbau der innerbetrieblichen Weiterbildung ist sehr gefragt.
"In Lettland tätige IT-Unternehmen rekrutieren beispielsweise nicht mehr ausschließlich IT-Fachkräfte, sondern auch Quereinsteiger und schulen diese dann im Betrieb um", berichtet Māris Balčūns, Büroleiter Lettland bei der AHK Baltikum. Andere Firmen konzentrieren sich bei der Mitarbeitersuche nicht nur auf potenzielle Arbeitnehmer aus Riga. "Sie rekrutieren in ganz Lettland, und die Angestellten arbeiten dann von zu Hause im Homeoffice. Das funktioniert hervorragend", sagt der Experte.
Die Schattenwirtschaft bleibt in Lettland weit verbreitet, ist aber rückläufig. Im Jahr 2023 betrug ihr Anteil laut dem "Shadow Economy Index for the Baltic Countries" 22,9 Prozent des BIP, rund 3,6 Prozentpunkte weniger als noch 2022. Erstmals seit 2009 ist Lettland damit nicht mehr das Land mit der größten Schattenwirtschaft im Baltikum: in Litauen liegt der Anteil bei 26,4 Prozent, in Estland bei 17,9 Prozent. Besonders stark ist die lettische Schattenwirtschaft im Bauwesen, Einzelhandel sowie im Dienstleistungssektor ausgeprägt.
Holzindustrie profitiert von steigender Auslandsnachfrage
In Lettland steigt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die Holzindustrie. Sie ist der mit Abstand wichtigste Sektor des lettischen verarbeitenden Gewerbes und hat in den letzten Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Denn die Branche setzt den Großteil ihrer Produktion im Ausland ab und profitiert dabei von einer steigenden weltweiten Nachfrage nach Holzprodukten. In keinem anderen EU-Land hat die Holzindustrie einen so großen Anteil an der Bruttowertschöpfung wie in Lettland.
Immer wichtiger wird zudem die Informations- und Kommunikations-Branche (IKT-Branche). Von 5,2 Prozent im Jahr 2017 ist ihr Beitrag zur Bruttowertschöpfung auf 6,9 Prozent 2023 gestiegen. Damit kommt der Branche in Lettland eine größere Rolle zu als im EU-Durchschnitt. Da waren es 5,4 Prozent.
Ein anderes Bild zeigt sich im Logistiksektor Lettlands. Sein Beitrag zur Wirtschaftsleistung nimmt ab. Dies liegt an der traditionellen Ausrichtung auf den Ost-West-Transport. Der Transit von Waren aus und nach Russland und Belarus war lange ein bedeutendes Geschäftsmodell für den Sektor. Bereits vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine war der Transitverkehr jedoch rückläufig.
Sektoren | Anteil an der Bruttowertschöpfung 2023 | Anteil an den Arbeitnehmern 2023 |
---|---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 4,7 | 6,7 |
Verarbeitendes Gewerbe | 13,5 | 12,9 |
Baugewerbe | 5,9 | 8,1 |
Verkehr und Lagerei | 6,2 | 8,2 |
Information und Kommunikation | 6,9 | 5,0 |
Riga ist die unangefochtene Nummer 1
In Lettland spielt die Hauptstadt eine herausragende Rolle. Allein in Riga wird mehr als die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes erwirtschaftet. Die Hauptstadtregion trägt fast 64 Prozent zum BIP bei. Dank des Hafens und des Flughafens ist Riga auch im Logistikbereich von großer Bedeutung.
Gebiet | Anteil am BIP (2021 in %) | BIP pro Kopf (2021 in Euro) | Bevölkerung (2024) |
---|---|---|---|
Region Riga | 63,9 | 25.033 | 860.035 |
Vidzeme | 11,1 | 13.364 | 273.835 |
Kurzeme | 10,1 | 12.116 | 273.917 |
Zemgale | 8,1 | 11.974 | 223.028 |
Latgale | 6,6 | 8.833 | 241.067 |