Special | Polen | Krieg in der Ukraine
Nicht nur bei Kabelbäumen drohen Lieferprobleme
Aufgrund des Kriegs in der Ukraine wächst Polens Wirtschaft langsamer. Wichtige Vorprodukte könnten bald fehlen. Gleichzeitig ziehen sich polnische Investoren aus Russland zurück.
16.03.2022
Von Christopher Fuß | Warschau
Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine korrigiert Polens Nationalbank (Narodowy Bank Polski; NBP) ihre Wirtschaftsprognosen nach unten. Das polnische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird 2022 voraussichtlich um 4,4 Prozent steigen. Im November 2021 ging die NBP von einem Plus von 4,9 Prozent aus. Gleichzeitig rechnet die Zentralbank mit Inflationsschüben. Die Verbraucherpreise werden 2022 den Prognosen zufolge um 10,8 Prozent anziehen.
Polen kauft im Osten vor allem Rohstoffe
Unter anderem drücken Probleme bei den Lieferketten auf die Wachstumsprognosen. Russland ist für Polen ein wichtiger Energielieferant. Die polnische Regierung versucht seit Jahren, unabhängiger von russischen Erdöl- und Gaseinfuhren zu werden.
Neben Energieträgern kauft Polen von Russland, Belarus und der Ukraine laut Eurostat vor allem Rohmaterialien, pflanzliche Öle und einige Metallwaren. Die drei Länder sind außerdem wichtige Bezugspartner für Holz. Ein Drittel aller polnischen Holzimporte kommt aus Russland, Belarus und der Ukraine. Noch größer ist die Rolle der östlichen Nachbarn beim Thema Dünger. Fast 41 Prozent aller polnischen Düngemittelimporte stammen aus den drei Ländern.
Russland gehört zu den bedeutendsten Lieferanten von Roheisen und Aluminium. Einige chemische Vorerzeugnisse bezieht Polen fast ausschließlich aus Russland.
In der Ukraine wiederum kauft Polen fast 80 Prozent seiner Eisenerzimporte. Wichtig ist die Ukraine auch als Bezugsland für pflanzliche Fette. Knapp 30 Prozent aller Pflanzenölimporte Polens kommen von ukrainischen Partnern.
Lieferketten deutscher Unternehmen in Polen unterbrochen
Die Automobilindustrie in Polen kämpft seit Kriegsbeginn mit fehlenden Bauteilen. Volkswagen musste in zwei polnischen Werken die Produktion einstellen. Es fehlen Kabelbäume aus der Ukraine. "Die Verlagerung der Kabelbaumproduktion in ein neues Werk kann Monate dauern", schätzt Rafał Orłowski vom Analyseunternehmen AutomotiveSuppliers.pl.
Zu einem weiteren Problem entwickeln sich die Metallpreise. Das betrifft auch Hersteller von Haushaltsgeräten. In Polen fertigen deutsche Firmen wie BSH und Miele. Der Leiter des Branchenverbandes APPLiA, Wojciech Konecki, erklärte in der Tageszeitung Rzeczpospolita: "50 Prozent der Masse von Haushaltsgeräten sind Metalle. Bei einigen Bauteilen kann es zu Lieferengpässen kommen." Auch die Baubranche klagt über hohe Metallpreise. Allein in der zweiten Kriegswoche sind die Kosten für Stahlprofile um 73 Prozent gestiegen.
Ein Stopp von Holzimporten aus dem Osten würde die Möbelindustrie treffen. Michał Strzelecki von der Kammer der Möbelhersteller (Ogólnopolska Izba Gospodarcza Producentów Mebli; OIGPM) kommentiert in der Rzeczpospolita: "Jede fünfte verwendete Holzwerkstoffplatte kommt aus Russland, Belarus oder der Ukraine."
Im Export Polens spielen Russland, Belarus und die Ukraine nur eine untergeordnete Rolle.
Polen öffnet seinen Arbeitsmarkt für Geflüchtete
Bis zum 16. März 2022 sind 1,9 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen geflohen. Der polnische Präsident Andrzej Duda unterschrieb ein Gesetz, dass den Schutzsuchenden den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern soll.
In Polen herrscht Arbeitskräftemangel. Andrzej Kubisiak vom regierungsnahen Thinktank Polnisches Wirtschaftsinstitut (Polski Instytut Ekonomiczny; PIE) erklärt in der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna: "Die Hälfte aller offenen Stellen befinden sich in der Industrie, Logistik und im Bauwesen, also Sektoren, in denen eher Männer aktiv sind." Die meisten Schutzsuchenden seien Frauen und Kinder. Es gäbe aber auch Bedarf im Dienstleistungssektor, im Handel oder in der Gastronomie.
Andrzej Kubisiak schätzt, dass bis zu 100.000 ukrainische Arbeitsmigranten seit Kriegsbeginn Polen verlassen haben, um sich den ukrainischen Streitkräften anzuschließen. Die Rückkehrer waren vor allem im Baugewerbe und in der Logistik tätig.
Polnische Unternehmen schließen russische Standorte
Wenige Unternehmen aus Polen unterhalten größere Fabriken in den östlichen Nachbarländern. Rund 2,7 Prozent des Bestands an polnischen Direktinvestitionen im Ausland sind in russischen Tochterfirmen investiert.
Polens Unternehmen ziehen sich aus Russland zurück. Ein Beispiel ist die Modegruppe LPP. Der Textilkonzern schließt Geschäfte. Dabei hat sich der Markt bislang gut entwickelt. LPP erwirtschaftet in Russland ein Fünftel seines Umsatzes. Das Unternehmen teilte mit, man unterstütze die Sanktionen gegen Russland.
Der Anhängerhersteller Wielton generiert immerhin 10 Prozent seiner Einnahmen in Russland. Das Unternehmen hat mit Kriegsbeginn dennoch beschlossen, keine neuen Produkte mehr auf den russischen Markt zu liefern. Der polnische Automobilzulieferer Boryszew baut bis auf Weiteres keine Fahrzeugteile mehr in Russland.
Polen schlägt weitere Sanktionen gegen Russland vor. Der Leiter des Premierministerbüros Michał Dworczyk erklärte, man könne Grenzübergänge für russische Lkw sperren. Nötig sei aber eine Entscheidung der Europäischen Union. Darüber hinaus setzt sich Polen für einen europaweiten Lieferstopp von russischem Erdöl, Erdgas und Kohle ein.
Neuer Impuls für europäische Fördergelder?
Gleichzeitig erhöht Polens Regierung den Druck beim europäischen Wiederaufbaufonds. Die Europäische Kommission hält Mittel aus dem Fördertopf zurück, weil Polen umstrittene Eingriffe in das Justizwesen nicht zurücknimmt. Dworczyk sagte im Radiointerview, die Einbehaltung von Geldern sei in einer Situation, in der Polen Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehme, "unverständlich".
Präsident Andrzej Duda und die Parteien der Regierungskoalition haben mittlerweile drei konkurrierende Reformpakete für das Justizwesen vorgestellt. Die Gesetze sollen Kritikpunkte der Europäischen Kommission entkräften. Welcher Vorschlag sich am Ende durchsetzt, ist offen. Ökonomen stimmen überein, dass die insgesamt 58 Milliarden Euro des Wiederaufbaufonds Polen dabei helfen können, die Wirtschaft zu stabilisieren.