Wirtschaftsumfeld | Ungarn | Wirtschaftsstruktur
Aktive Industriepolitik prägt die Wirtschaftsstruktur
Knapp drei Viertel der industriellen Produktion wird exportiert. Tragende Säule der Wirtschaft ist die Automobilindustrie. Ungarn entwickelt sich zur Hochburg für Elektromobilität.
22.02.2024
Von Kirsten Grieß | Budapest
Ungarn war 2022 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 170 Milliarden Euro nach Polen und Tschechien Nummer 3 unter den Visegrád-Staaten. Mit einem BIP pro Kopf von 17.440 Euro lag Ungarn in etwa gleichauf mit Polen. Das sind in Kaufkraftparitäten 76 Prozent des EU-Durchschnitts, was Rang 21 der 27 EU-Mitglieder entspricht.
Der Dienstleistungssektor ist der größte Wirtschaftszweig in Ungarn. Seit Jahren wächst allerdings der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung. Der Beitrag der Landwirtschaft sinkt stetig, obgleich die Agrarleistung ebenso wie der Lebensmittelsektor nach wie vor ein wichtiger Treiber des Wirtschaftswachstums ist.
Ausgeprägter Fachkräftemangel belastet viele Unternehmen und droht, die industriepolitischen Ambitionen der Regierung auszubremsen. Die Energiewende kommt nur schleppend voran.
Nach wie vor sind 20 Milliarden Euro an EU-Mitteln blockiert, da Ungarn aus Sicht der EU die attestierten Mängel bei der Rechtsstaatlichkeit nicht ausreichend beseitigt hat. Große Summen sind für die Steigerung der Energieeffizienz und den Ausbau erneuerbarer Energien vorgesehen. Die Freigabe einer ersten Tranche von 10 Milliarden Euro durch die Europäische Kommission Ende 2023 lässt das Europaparlament juristisch prüfen.
Ausführliche Informationen zur Wirtschaft in Ungarn finden Sie in den Wirtschaftsdaten kompakt.
Die deutsch-ungarische Erfolgsstory trübt sich ein
Die deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen haben sich seit Beginn der 1990er Jahre rasant entwickelt. Zu ihrem dreißigjährigen Jubiläum 2023 zählte die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer (DUIHK) mehr als 900 Mitgliedsunternehmen. Rund 2.400 deutsche Investoren sind in Ungarn aktiv. Sie tragen rund ein Sechstel zum ungarischen BIP bei. Nach ungarischen Statistiken arbeiten rund 300.000 Ungarn für deutsche Unternehmen.
Die Regierungspolitik Viktor Orbáns belastet inzwischen das bilaterale Verhältnis. Kurzfristige Entscheidungen etwa bei der Einführung von Preisdeckeln oder Sondersteuern verunsichern Investoren. Die ungarische Wirtschaft rutschte 2023 in die Rezession. Bei der letzten Konjunkturumfrage der DUIHK Ende vergangenen Jahres lagen die Geschäftserwartungen der befragten Mitgliedsunternehmen deutlich im Minus. Erstmals seit zehn Jahren wollen mehr Unternehmen Investitionsausgaben reduzieren statt erhöhen.
Mit Elektromobilität in die Zukunft
Ungarns industrielle Produktion wird vom Fahrzeugbau dominiert. Der Anteil der Automobilindustrie am Gesamtumsatz des produzierenden Gewerbes lag 2022 bei 24 Prozent. Rund 91 Prozent der hergestellten Fahrzeuge und Fahrzeugteile wurden exportiert. Audi, Mercedes und Stellantis fertigen Pkw in Győr, Kecskemét und Szentgotthárd, ein BMW-Werk ist in Debrecen im Bau. Um die Automobilhersteller ist eine leistungsfähige Zulieferindustrie herangewachsen, auch zahlreiche Mittelständler produzieren Fahrzeugteile im Land.
Zuletzt kündigte der chinesische Autobauer BYD an, sein erstes Werk für Elektroautos auf europäischem Boden in der südungarischen Stadt Szeged anzusiedeln. Die Großinvestition erfolgt im Rahmen der ungarischen Regierungsstrategie, die Elektromobilität gezielt zu fördern und eine entsprechende Zulieferindustrie aufzubauen. Dazu gehört auch die Batterie- und Batteriezellenproduktion. Ungarn liegt nach Ansiedlungen aus Südkorea, Japan und China weltweit auf Platz 4 der Batterieproduzenten, Platz 2 ist anvisiert.
Neue Chancen im Abfallrecycling
Mit dem Hochlaufen der Elektromobilität wird Batterierecycling in Ungarn relevant. Die EU schreibt seit 2023 eine Rücknahmepflicht und Mindestrecyclinganforderungen für Hersteller vor. Der südkoreanische Batteriehersteller SK Innovation und die slowenische Andrada Gruppe kündigten erste Recyclingwerke an.
Traditionelle Industrien werden modernisiert
Wichtige Branchen sind in Ungarn traditionell die Nahrungsmittelindustrie, die Medizintechnik und die Arzneimittelbranche. In diesen Industriezweigen will die Regierung Produktionskapazitäten aufbauen und stärken. Für die stark modernisierungsbedürftige Lebensmittelverarbeitung hat die Regierung 2024 ein eigenes Investitionsprogramm geplant. An weitere Branchen richtet sich das staatliche Kreditprogramm Baross Gábor. Adressiert werden damit unter anderen Unternehmen der Pharmaindustrie, des Tourismus und Gastgewerbes, Logistiker und Automobilzulieferer. In beiden Programmen stehen Anlageinvestitionen im Vordergrund.
Sektoren | Anteil an der Bruttowertschöpfung 2022 | Anteil an den Beschäftigten 2022 |
---|---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 3,8 | 2,3 |
Bergbau (inklusive Öl- und Gasförderung) | 0,5 | 0,1 |
Verarbeitendes Gewerbe | 20,2 | 20,3 |
Energieversorgung (inklusive Wasserversorgung) | 1,8 | 1,8 |
Baugewerbe | 6,3 | 6,2 |
Dienstleistungen | 67,3 | 69,2 |
Industriezentren geraten an Wachstumsgrenzen
Unangefochtenes Wirtschaftszentrum Ungarns ist Budapest. An dem ursprünglich auch bedeutendstem Industriestandort schrumpft der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Wirtschaftsleistung aber seit Jahren. Im Vergleich zu anderen Regionen ist der Dienstleistungssektor in der Hauptstadt überdurchschnittlich stark, vor allem im Tourismus und Gastgewerbe, im Bankensektor und bei unternehmensnahen Dienstleistungen. Budapest ist auch wichtigster Wissenschaftsstandort und Logistikhub des Landes. Das wirtschaftliche Gefälle zu benachbarten Regionen ist hoch.
Wichtigstes Industriezentrum in Nordwestungarn ist die Stadt Győr. Initialzündung für die Entwicklung der Region gab die Ansiedlung von Audi im Jahr 1993. Inzwischen ist Audi Hungaria laut Unternehmensangaben mit knapp 12.000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber Ungarns. Győr profitierte bei der Entwicklung vor allem von der Grenznähe zu Österreich im Städtedreieck Wien-Budapest-Bratislava.
Die nördliche Tiefebene rund um die Stadt Debrecen hat sich zum zweiten großen Automobilzentrum entwickelt. BMW realisiert hier seine iFACTORY. Auch die Megafabrik des chinesischen Batterieherstellers CATL entsteht in Debrecen. Die Standorte Győr und Debrecen geraten allerdings an ihre Wachstumsgrenzen: Gewerbliche Flächen, Arbeitskräfte und Wohnraum werden knapp. Als neue aufstrebende Region fördert die Regierung inzwischen den unterentwickelten Süden. Das BYD-Werk entsteht in Szeged, am Dreiländereck mit Serbien und Rumänien.