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Präsidentschaftswahlen in Venezuela - ein rechtlicher Überblick
Am 28. Juli 2024 fanden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt. Dieser Bericht erklärt das Wahlverfahren unter dem Gesichtspunkt der venezolanischen Gesetzgebung.
08.08.2024
Von Dr. Julio Pereira | Berlin
Der Nationale Wahlrat (Consejo Nacional Electoral - CNE) gab offiziell bekannt, dass die derzeitige Regierung mit einer Mehrheit der Stimmen wiedergewählt sei. Jedoch wurden die Wahlakten nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Seitdem fordern mehrere Länder, darunter auch die Europäische Union, die Vorlage dieser Unterlagen.
Die Rolle des Präsidenten in wirtschaftlichen Angelegenheiten
Der Präsident der Republik ist für die Einhaltung und Durchsetzung der Verfassung und der Gesetze des Landes verantwortlich. Die venezolanische Verfassung (Constitución de la República Bolivariana de Venezuela de 1999 - CRBV/99) räumt dem Präsidenten verschiedene Befugnisse und Zuständigkeiten in wirtschaftlichen Angelegenheiten ein. Diese Befugnisse finden sich hauptsächlich im Kapitel II, in dem die Exekutive behandelt wird (Art. 236 CRBV). Der Präsident führt das öffentliche Schatzamt und bestimmt die Währungs- und Wechselkurspolitik. Der Präsident ist auch befugt, außerordentliche Verwaltungsmaßnahmen zu erlassen, die im Falle einer Wirtschaftsnotlage erforderlich sind. Darüber hinaus besteht eine der Hauptaufgaben des Präsidenten im Bereich Außenwirtschaft darin, internationale Vereinbarungen abzuschließen.
Gewaltenteilung in Venezuela
Zusätzlich zu den drei traditionellen Gewalten (Exekutive, Legislative und Judikative) sieht Artikel 136 der venezolanischen Verfassung zwei weitere Gewalten vor: die Bürgermacht (Poder Ciudadano) und die Wahlmacht (Poder Electoral). Die Wahlmacht spielt eine entscheidende Rolle bei der Durchführung und Überwachung der Wahlergebnisse. Sie wird durch den Nationalen Wahlrat (CNE) ausgeübt.
Neben dem CNE kann auch die Judikative über den Obersten Gerichtshof (Tribunal Supremo de Justicia - TSJ) zur Beilegung von Wahlstreitigkeiten angerufen werden.
Wann gilt der Präsident in Venezuela offiziell als „gewählt“?
Nach der venezolanischen Verfassung wird der Präsident der Republik gemäß den gesetzlichen Bestimmungen in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl gewählt (Art. 228 CRBV). Gewählt ist, wer die Mehrheit der gültigen Stimmen erhält.
Das Wahlgesetz (Ley Orgánica de Procesos Electorales - LOPRE) legt fest, dass die Präsidentschaftswahlen in vier Verfahrensschritten ablaufen:
- Einrichtung der Wahllokale: Die Wahllokale werden am Wahltag eingerichtet. Jedes Wahllokal wird von Zeugen der politischen Parteien besucht (Art. 106 Abs. 5 LOPRE).
- Stimmabgabe: Die Wähler:innen begeben sich in die Wahllokale, um ihr Wahlrecht auszuüben, das nicht obligatorisch ist (Art. 126 LOPRE). Die Stimmabgabe ist im Großteil des Landes automatisiert und erfolgt über elektronische Wahlurnen (Art. 133 LOPRE).
- Stimmenauszählung: Nach Abschluss der Stimmabgabe folgt die ebenfalls automatisierte Auszählung der Stimmen. Die elektronischen Wahlurnen drucken Wahlakten mit den erhaltenen Ergebnissen aus. Die Wahlakten werden sowohl elektronisch als auch in gedruckter Form an den Nationalen Wahlrat (CNE) übermittelt. Die Auszählung der Stimmen in jedem Wahllokal muss laut Gesetz innerhalb von 48 Stunden erfolgen (Art. 146 LOPRE). Auf der Grundlage der Ergebnisse aller Wahlakten werden die Stimmen zusammengezählt.
- Verkündigung der Ergebnisse: Bei Präsidentschaftswahlen proklamiert der CNE den Namen des Wahlsiegers „in Übereinstimmung mit dem Auszählungsverfahren“ (Art. 153 LOPRE). Die Wahlergebnisse werden innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Verkündung offiziell veröffentlicht (Art. 155 LOPRE).
Wie wichtig sind die Wahlakten?
Die Wahlakte (Acta de escrutinio) ist das unerlässliche Dokument für die Bekanntgabe der Wahlergebnisse in Venezuela. Ohne sie gibt es aus rechtlicher Sicht kein Wahlergebnis. Das Gesetz besagt, dass die Stimmenauszählung „öffentlicher Natur“ ist (Art. 140 LOPRE). Daher gewährleistet die Wahlakte nicht nur die Wahrhaftigkeit, sondern auch die Transparenz der Wahlergebnisse. Dies wird nicht nur durch die Unterschriften der Mitglieder des Wahllokals dokumentiert, sondern auch durch die der Wahlzeugen (Testigos electorales), die Vertreter der Kandidaten sind (Art. 142 LOPRE). Artikel 337 der LOPRE-Verordnung sieht ausdrücklich vor, dass den Zeugen gedruckte Exemplare der Wahlakte übergeben werden müssen. Daher ist nicht nur der CNE im Besitz der Wahlakte, sondern auch die Präsidentschaftskandidaten. Die Wahlakten sind von so entscheidender Bedeutung, dass das Gesetz selbst die Möglichkeit einräumt, die den Zeugen der politischen Parteien ausgehändigten Kopien zu verwenden, wenn es Probleme mit der Stimmenauszählung gibt (Art. 149 LOPRE).
Bedeutet die offizielle Bekanntgabe des Wahlsiegers, dass die Wahlakte nicht veröffentlicht werden müssen?
Nein. Die Transparenz der Wahlverfahren ist ein Grundprinzip in der Verfassung Venezuelas (Art. 294 CRBV/99), das im Gesetz bekräftigt wird (Art. 3 LOPRE). Jede Bekanntgabe von Wahlergebnissen durch den CNE bedarf der Rechtskraft, die nur durch die Wahlakten gewährleistet werden kann. Das Gleiche gilt für jede Entscheidung des TSJ in diesem Zusammenhang. Die Vorlage der Wahlakte durch den CNE zur gerichtlichen Kontrolle entbindet nicht von der Verpflichtung zur Transparenz des Wahlverfahrens.
Unabhängig von der Bekanntgabe durch den CNE oder einer Entscheidung des TSJ sieht das Gesetz vor, dass die Wahlergebnisse anhand der detaillierten Angaben in den Wahlakten (Art. 150 LOPRE) überprüft werden müssen. Dies erfolgt durch ein Audit. Bei dem Audit müssen „alle materiellen und technischen Mittel“ sowie die „Daten“ der verschiedenen Phasen des Wahlverfahrens geprüft werden, um deren „Transparenz und Zuverlässigkeit“ zu bestätigen (Art. 156 LOPRE). Mangelnde Transparenz kann nicht nur zur Anfechtung der Ergebnisse führen (Art. 202 ff. LOPRE), sondern auch zur Annullierung der Wahlen (Art. 170 LOPRE).
Zum Thema:
- GTAI-Publikation Recht kompakt Venezuela