Markets International 6/24 I Vietnam I Investitionsklima
Und sie bewegen sich doch ...
Das harte Vorgehen der vietnamesischen Regierung gegen Korruption hat in den vergangenen Jahren die Wirtschaft behindert. Jetzt beginnen sich die Fesseln langsam zu lösen.
12.12.2024
Von Peter Buerstedde | Hanoi
Am Stadtrand von Hanoi verdecken Arbeiter den rostigen Bauzaun mit großen frischen Plakatwänden. Zu sehen sind lachende Familien vor stattlichen Villen und von endlosen Häuserzeilen umsäumte Seelandschaften im Abendlicht. Ein Blick in die breite Baustellenausfahrt zeigt dann aber ein gigantisches, fast gänzlich überflutetes Areal – Taifun Yagi ist Anfang September vorbeigefegt und hat seine Spuren hinterlassen. Doch in nur einem Jahr sollen hier auf 90 Hektar Villen, Reihenhäuser, Wohntürme, Einkaufszentren und ein neues Messegelände für die Stadt Hanoi entstehen. Der Verkauf läuft bereits auf Hochtouren.
Markets International Ausgabe 6/24
Markets International 05/24 | © GTAIDieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Markets International, Ausgabe 6/2024. Erfahren Sie, welche weiteren Beiträge die Ausgabe für Sie bereit hält.
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Von dem Sturm lässt sich der größte Immobilienkonzern des Landes, Vingroup, nicht beirren. Seit September 2024 ist ein Heer von Maschinen im Einsatz. Das Konzept für das Großvorhaben hatten vor vielen Jahren die Architekturfirma gmp und das Ingenieurbüro Inros Lackner aus Deutschland erstellt. Das Projekt lag aber so lange brach, dass keine der beiden Firmen noch involviert ist. Der Baustart ist das jüngste Anzeichen dafür, dass wieder Bewegung in den festgefahrenen Immobiliensektor gekommen ist. Nicht nur da herrschte in den letzten Jahren in Vietnam Stillstand.
Sand im Getriebe der Verwaltung
Laendercheck_VietnamIm Jahr 2016 hatte Generalsekretär Nguyen Phu Trong, besorgt um das Ansehen der Kommunistischen Partei, eine Antikorruptionskampagne unter dem klangvollen Namen brennender Ofen lanciert. Die Kampagne war nicht unbegründet. Aufsehen erregte vor allem der Fall der Geschäftsfrau Truong My Lan: Sie hatte über etliche Jahre umgerechnet rund 12,4 Milliarden US-Dollar veruntreut, der Gegenwert von knapp drei Prozent des vietnamesischen Bruttoinlandsprodukts. Im April 2024 wurde sie dafür zum Tode verurteilt. Insgesamt hat die Regierung seit Kampagnenstart gegen rund 200.000 Parteimitglieder Disziplinarverfahren eingeleitet. An der höchsten Staatsspitze mussten fünf Politbüromitglieder ihre Posten räumen.
Die unerwünschte Nebenwirkung der Säuberungskampagne: Niemand in staatlichen Behörden wollte mehr Entscheidungen treffen. Zu groß war die Furcht davor, ins Visier des Sicherheitsapparats zu gelangen. Häufige Wechsel katapultierten völlig unerfahrene Mitarbeiter auf wichtige Verwaltungsposten. Das wirkte wie Sand im bürokratischen Staatsgetriebe.
Der fast vollständige Genehmigungsstopp hat, gekoppelt mit der Coronakrise, im Immobiliensektor spekulative Geschäftsmodelle über den Haufen geworfen und im ganzen Land viele unfertige Wohn- und Hotelbauten zurückgelassen. Im Jahr 2023 legten Stromausfälle die Produktion in Industrieparks in Nordvietnam lahm. Die Weltbank schätzte den Schaden auf 1,4 Milliarden US-Dollar.
Es geht wieder voran
Doch auch andere Branchen traf die zögerliche Haltung hart: So stand die einsatzbereite Fabrik einer deutschen Firma ein Jahr lang still, bevor – unter politischem Druck – eine Genehmigung erwirkt werden konnte. In einem anderen Fall konnte eine Produktionslinie aus Deutschland nicht zum Einsatz kommen: Der vietnamesische Kunde bekam die Betriebsgenehmigung nicht und musste die Anlage noch vom Schiff ins Ausland weiterverkaufen. Beim Gesundheitsministerium stapeln sich die Aufträge für Import- und Produktlizenzen, auch von deutschen Firmen. Eine vorübergehende Lösung wurde erst gefunden, als Krankenhäuser im April 2024 öffentlich vor drohenden Versorgungsengpässen warnten.
Zuletzt haben sich aber positive Anzeichen für eine Wende verdichtet: Viele Bauprojekte starten wieder durch. Auch deutsche Architektur- und Ingenieursfirmen haben wieder große Projektausschreibungen gewonnen. Im Juni 2024 konnte die überirdisch verlaufende Hälfte einer zweiten Metrolinie in Hanoi den Betrieb aufnehmen. Der Rest soll 2029, statt wie ursprünglich geplant 2016, fertig werden.
Noch mehr Hoffnung, dass sich die Blockade in der Verwaltungsmaschinerie in den kommenden Monaten weiter auflöst, macht ein Führungswechsel an der Staatsspitze. Der ehemalige Sicherheitsminister To Lam hat als neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams Anfang August 2024 die Nachfolge des im Vormonat verstorbenen Nguyen Phu Trong angetreten. Dieser galt als Verfechter einer kompromisslos geführten Antikorruptionskampagne. To Lam hat nun einen neuen Ton angeschlagen: „Der Kampf gegen die Korruption geht weiter, aber sie darf die Wirtschaftsentwicklung nicht behindern.“ Mehr Pragmatismus, weniger Ideologie, vermuten Wirtschaftsanalysten hinter den Worten.
Um die stockenden öffentlichen Investitionen anzukurbeln, treibt die Regierung Großprojekte im Hauruckverfahren voran. In den vergangenen fünf Jahren wurden als Konjunkturmaßnahme 1.000 Autobahnkilometer aus dem Boden gestampft und das Autobahnnetz dadurch verdoppelt. Bis 2025 sollen weitere 1.000 Kilometer hinzukommen. Dafür hat Premierminister Pham Minh Chinh im August 2024 eine 500-Tage-und-Nächte-Kampagne lanciert. Vor den Toren der Wirtschaftsmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt entsteht zudem für 13 Milliarden US-Dollar ein neuer Flughafen – Baustart 2021, geplante Inbetriebnahme 2026. Dank zusätzlicher Kraftanstrengungen sollen hier schon 2025 die ersten Flugzeuge landen.
Diese Märkte sind im Kommen
101Energie: Vietnam will 2045 klimaneutral sein. Im Energiesektor sollen Kohlekraftwerke, von denen nur noch wenige neu hinzugebaut werden, zunächst auf Gas und später auf Wasserstoff umsatteln. Offshore-Windkraft soll in großem Umfang Strom und Wasserstoff liefern. Die jüngst geschaffene Möglichkeit direkter Abnahmeverträge zwischen Großabnehmern und privaten Erzeugern dürfte zunächst Aufdachsolaranlagen zugutekommen.
Transportinfrastruktur: Nach den Autobahnen will die Regierung den Bahnausbau in Angriff nehmen. Geplant ist eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt. Die beiden Wirtschaftsmetropolen des Landes planen zudem zusammen 16 weitere Metrolinien, die bis 2035 zu den zwei Linien hinzukommen sollen, die bisher in Betrieb sind.
Umwelttechnik: Die Kreislaufwirtschaft ist ein Wachstumsmarkt in Vietnam. Druck kommt von außen durch drohende EU-Vorgaben für Mindestanteile an recycelten Materialien und durch große Marken, die sich eigene CO2-Ziele gesetzt haben.
Konsumgüter: Die Mittelklasse wächst weiter stark und bringt deutschen Produkten höchstes Vertrauen entgegen. Der Inlandsmarkt ist nicht einfach zu erschließen. Aber erfolgreiche deutsche Marken bieten gute Vorbilder, an denen sich Neueinsteiger orientieren können.
IT-Outsourcing: Viele deutsche Firmen oder auch deutsche Firmengründungen vor Ort lassen Software in Vietnam programmieren. Aber auch andere im weitesten Sinne digitale Dienste lassen sich gut hierhin auslagern: Digitalisierung von Rechnungen, planerische Arbeiten durch Ingenieure und Architekten etc.
Einiges ist noch zu tun
Weniger Elan ist im Energiesektor zu verspüren, auch weil das zuständige Ministerium für Industrie und Handel aufgrund von Korruptionsvorwürfen lange Zeit einer Prüfung unterzogen wurde. Es fehlt noch die rechtliche Weichenstellung für die geplante Energiewende. Große Akteure wie Ørsted, Equinor und Enel, die versucht hatten, Offshore-Windkraftprojekte umzusetzen, haben sich deshalb vom Markt zurückgezogen. Deutsche Entwickler wie Enertrag, PNE und WPD bereiten weiter Vorhaben vor, auch wenn die Erfolgsaussichten ungewiss sind.
Aber auch in dieser Branche gibt es Bewegung: Im Juli 2024 hat die Regierung auf Druck ausländischer Investoren die Möglichkeit geschaffen, dass Großverbraucher in der Industrie direkt erneuerbaren Strom von privaten Erzeugern beziehen können.
Dass sich die Genehmigungs- und Entscheidungsknoten langsam lösen, ist ein gutes Zeichen für deutsche Firmen. Vietnam hegt ambitionierte Pläne beim Ausbau erneuerbarer Energien und bei der Netzinfrastruktur. Das eröffnet deutschen Unternehmen gute Geschäftschancen. Gleiches gilt für die Transportinfrastruktur: Hier will das Land nach dem Autobahnausbau die Bahn- und Metronetze ausweiten.
Deutsche Produkte sind beliebt
Gleichzeitig zieht Vietnam weiter in großem Umfang ausländische Investitionen an. Dies wird das Wirtschaftswachstum weiter antreiben. Die Zuflüsse steuern 2024 erneut auf einen Rekordbetrag zu. Gerade chinesische, taiwanesische, japanische und koreanische Firmen errichten neue Fabriken. Der anhaltende Handelskonflikt zwischen den USA und China treibt sie in die Arme Vietnams. Das Land wiederum lockt mit guten Produktionsbedingungen für den Export. Die Löhne liegen etwa bei der Hälfte des chinesischen Niveaus. Zahlreiche Freihandelsabkommen, darunter auch das mit der EU, erlauben eine Bedienung vieler Auslandsmärkte. Auch können ausländische Unternehmen 100-prozentige Tochterfirmen gründen, im Gegensatz zu anderen Ländern der Region, wo oft lokale Anteilseigner benötigt werden.
Deutsche Firmen nehmen auch den Konsummarkt Vietnam immer stärker ins Visier: Unternehmen, die zuvor fast ausschließlich für den Export produzierten, wie etwa der Pharmahersteller Stada oder der Produzent von Heiz- und Kühltechnik Viessmann, wenden sich stärker dem Inlandsmarkt zu. Deutsche Produkte genießen in der vietnamesischen Bevölkerung großes Vertrauen. Zwei Beispiele: Nahrungsergänzungsmittel von Doppelherz sind sehr gefragt und Produkte der Drogeriekette dm gelangen auch ohne offiziellen Vertrieb containerweise ins Land.