Wirtschaftsumfeld | Westbalkan | EU-Beitritt
Neue Bewegung für den EU-Beitrittsprozess auf dem Westbalkan
Brüssel beginnt Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien. Das bringt neuen Schwung für die EU-Integration. Wirtschaftlich ist die Region bereits eng mit der EU verbunden.
20.07.2022
Von Martin Gaber | Belgrad
Die Europäische Union (EU) hat am 19. Juli 2022 Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien eröffnet. Damit kommt auf dem Westbalkan nach Jahren ohne echte Fortschritte wieder Bewegung in die EU-Annäherung. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hatte eine neue Dynamik in die Erweiterungspolitik der EU gebracht. Ukraine und Moldau wurden innerhalb weniger Monate zum Beitrittskandidaten. Auch Georgien wurde der Status beim EU-Gipfel am 23. Juni 2022 in Aussicht gestellt, aber an weitere Reformen geknüpft. Die Länder des Westlichen Balkans hingegen waren dort leer ausgegangen. Vor allem das EU-Mitglied Bulgarien hatte Fortschritte in der EU-Annäherung Nordmazedoniens blockiert. Nun hat die EU nachgebessert und zwischen Bulgarien und Nordmazedonien vermittelt und so den Weg für Verhandlungen geebnet. Die Aufnahme von Verhandlungen mit Albanien wiederum waren an Nordmazedonien gekoppelt.
Land | Antrag auf EU-Beitritt | Beitrittskandidat seit | Beginn der Verhandlungen | Abgeschlossene Kapitel |
---|---|---|---|---|
Albanien | 2009 | 2014 | 2022 | Verhandlungen in 2022 begonnen |
Bosnien und Herzegowina | 2016 | offen | offen | nicht begonnen |
Kosovo | nicht eingereicht | offen | offen | nicht begonnen |
Montenegro | 2008 | 2010 | 2012 | 3 von 33 |
Nordmazedonien | 2004 | 2005 | 2022 | Verhandlungen in 2022 begonnen |
Serbien | 2009 | 2012 | 2014 | 2 von 34 |
Wirtschaftliche Integration schon weit fortgeschritten
Während die politische Integration der Länder langsam vorankommt, ist die Region wirtschaftlich bereits stark integriert. Rund 70 Prozent aller Exporte aus dem Westbalkan gehen in die EU, belegen Zahlen der nationalen Statistikbehörden. Das entspricht mehr als 27 Milliarden Euro. Die lokale Exportwirtschaft steht und fällt mit der Konjunktur in der Union. Spitzenreiter dabei ist Nordmazedonien. Das Zwei-Millionen-Einwohner-Land schickt fast 80 Prozent seiner Ausfuhren in die EU. Aufgrund des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens läuft der Handel mit allen sechs Ländern nahezu zollfrei.
Nachbarländer sind ebenfalls wichtige Handelspartner
Neben der EU sind für die meisten Länder des westlichen Balkans die Nachbarstaaten wichtige Handelspartner. Diese sind bereits durch ein Freihandelsabkommen verbunden. Das Central European Free Trade Agreement (CEFTA) ermöglicht seit 2007 freien Warenverkehr zwischen den sechs Westbalkanstaaten sowie der Republik Moldau.
EU-Unternehmen investieren kräftig
Ein ähnliches Bild wie im Außenhandel zeigt sich bei den ausländischen Direktinvestitionen (FDI). Hier sind Unternehmen aus der EU ebenfalls führend. Die Zuflüsse und Reinvestitionen von EU-Unternehmen auf dem Westbalkan beliefen sich zwischen 2010 und 2021 auf rund 40 Milliarden Euro. Das sind 55 Prozent der Gesamtinvestitionen in der Region. Allein deutsche Unternehmen haben weit über 100.000 Arbeitsplätze in den sechs Ländern geschaffen.
Sowohl beim Außenhandel als auch den ausländischen Direktinvestitionen sticht Serbien hervor. Das Land mit der Millionenmetrople Belgrad gilt als wirtschaftlicher Motor des westlichen Balkans.
EU gibt 14 Milliarden Euro Heranführungshilfen
Zur Heranführung an die Europäische Union unterstützt Brüssel den Westbalkan bereits heute über Heranführungshilfen. Die sogenannten IPA-Fonds (Instrument for Pre-Accession Assistance) sollen dafür sorgen, dass benötigte politische und wirtschaftliche Reformen durchgeführt werden können. Im aktuellen Finanzrahmen 2021 bis 2027 stehen für den Westbalkan sowie die Türkei rund 14 Milliarden Euro zur Verfügung. Mittel aus den Heranführungshilfen gehen auch in den EU Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan. Dieser setzt unter anderem Schwerpunkte auf nachhaltigen Transport, saubere Energie, Umwelt und Klima.
Ungelöste politische Konflikte hemmen den Fortschritt
Politische Konflikte in der Region hemmen einen schnelleren Fortschritt in den Beitrittsverhandlungen. Nach wie vor gibt es Spannungen zwischen Serbien und Kosovo. Der Kosovo wird weder von Serbien noch einigen EU-Ländern anerkannt. Das Land hatte 2008 einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt.
Auch in Bosnien und Herzegowina ist noch keine Entspannung in Sicht. Nach den Balkankriegen der 1990er-Jahre wurde das Land in zwei Entitäten und einen Sonderdistrikt aufgeteilt. Die hauptsächlich von serbischen Bosniern bewohnte Entität Republika Srpska droht immer wieder mit einer Abspaltung vom fragilen Gesamtstaat.
Auch in Nordmazedonien haben regionale Konflikte ein schnelleres Vorankommen auf dem Weg zu den EU-Beitrittsverhandlungen verhindert:
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Russland und China suchen Bindung zum Westbalkan
Neben der EU bemühen sich Russland und China um eine enge Bindung an die Region. Der Westbalkan wird als mögliches Tor in Richtung EU gesehen. Peking finanziert vor allem Verkehrsinfrastruktur, beispielsweise eine umstrittene Autobahn in Montenegro. Gleichzeitig treibt China strategische privatwirtschaftliche Projekte voran, dazu gehören der Kupferabbau und ein Stahlwerk in Serbien. Russland wiederum hat in Serbiens Energieinfrastruktur investiert. Serbiens Energieversorgung hängt von russischen Gasimporten ab. Der Liefervertrag wurde erst kürzlich verlängert, was Serbien internationale Kritik einbrachte.
Wirtschaftsstandort Westbalkan hat Potenzial
Für die Wirtschaft wird der Westbalkan perspektivisch weiter an Bedeutung gewinnen. Seit den Krisen um das Coronavirus, Lieferketten und die Ukraine rückt die Region als Alternative in den Fokus. Vor allem für die Beschaffung sind einige Branchen interessant. Serbien hat sich bereits als wichtiger Standort für die Autozulieferindustrie etabliert. Insgesamt könnte die Region zum neuen Hub für die verarbeitende Industrie werden. Dabei rückt der Westbalkan immer weiter weg von der verlängerten Werkbank. Auch namhafte deutsche Unternehmen wie Continental, Robert Bosch oder ZF investieren mittlerweile in Forschung und Entwicklung vor Ort.