Sie sind ein ausländisches Unternehmen, das in Deutschland investieren möchte?

Neuer Inhalt (1) Neuer Inhalt (1)

Special | 20 Jahre EU-Osterweiterung | Baltikum

Baltikum: EU-Bindung hat hohe Priorität

Zwanzig Jahre nach dem EU-Beitritt orientieren sich die baltischen Staaten in der Gesundheitswirtschaft eng aneinander und setzen dabei doch eigene Schwerpunkte. 

 

Von Walter Liedtke (pressto GmbH)

Durch den EU-Beitritt vor 20 Jahren hat die Wirtschaftskraft der baltischen Staaten einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht. Erst kam 2004 der gemeinsame EU-Beitritt, dann der Beitritt zum Schengen-Raum (2008), schließlich die volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer (1. Mai 2011) und als letzter Schritt die Euro-Einführung (Estland 2011, Lettland 2014, Litauen 2015). Überall im medizinischen Bereich wurden EU-Standards eingeführt, so etwa bei der Zulassung von Arzneimitteln. 

Mittelfristig gute Exportchancen

"Auch in den baltischen Staaten steigen die Löhne massiv und durch den steigenden Wohlstand werden die Menschen mehr Geld für ihre eigene Gesundheitsversorgung im Privatbereich ausgeben“, sagt GTAI-Korrespondent Niklas Becker, der von Helsinki aus die baltischen Staaten aus deutscher Sicht mit im Blick hat: "Derzeit sind die Haushalte der drei Staaten noch stark damit beschäftigt, die höheren Energiekosten durch den Ukraine-Krieg und die Abkopplung vom russischen Gas zu verkraften.“ 

Mittelfristig wird sich die Haushaltslage aber wieder verbessern und das wird auch der Gesundheitswirtschaft zugutekommen. Niklas Becker: "Die Bedeutung privater Krankenversicherungen und Gesundheitsdienstleister steigt auch in den baltischen Staaten, ebenso wie die Lebenserwartung, auch wenn sie den EU-Durchschnitt noch nicht erreicht hat.“ 

Laut Fitch Solutions gelten für alle drei baltischen Länder mittelfristig gute Exportchancen, vor allem innerhalb des Pharmasektors werden die Ausgaben für Generika etwas schneller wachsen als die Ausgaben für patentierte Medikamente. Laut Fitch Solutions liegt das daran, dass die Nachfrage nach innovativen Behandlungen sowohl den Markt für Generika als auch den Markt für patentierte Medikamente unterstützt. Generika werden ihren Marktanteil bis zum Prognosezeitraum 2033 geringfügig erhöhen

Um Geld aus dem Aufbau- und Resilienzfonds der EU nach der Corona-Pandemie zu erhalten, mussten auch die baltischen Staaten Pläne über die Verwendung der Mittel erstellen. Überall fließt Geld, auch in die Gesundheitswirtschaft, vor allem in Investitionen in medizinische Geräte, den Bau von Krankenhäusern und medizinischen Versorgungszentren sowie in die weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens. 

Gesundheitswirtschaft in den baltischen Staaten

Die Gesundheitssysteme der baltischen Staaten haben schon in den Jahren zwischen der Unabhängigkeit und dem EU-Beitritt im Jahr 2004 grundlegende strukturelle Reformprozesse von der sozialistischen Planwirtschaft der Sowjetunion zur Marktwirtschaft durchgemacht. Das war mit gewaltigen Kraftanstrengungen verbunden. Heute leiden die Gesundheitssysteme unter chronischem Geldmangel. Die baltischen Staaten suchen den Ausweg im forcierten Einsatz digitaler Versorgungskanäle – mit Erfolg. Estland gilt hier als Vorreiter, aber auch in Lettland und Litauen ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens weit fortgeschritten. 

Estland ist laut Bertelsmann Digital Health Index führend im Bereich der digitalen Gesundheit. Das estnische Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk ENHIS, das ausnahmslos alle Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken vernetzt, beinhaltet die gesamte Krankengeschichte aller Bürgerinnen und Bürger. E-Rezept und elektronische Patientenakten sind gesetzlich verpflichtend, Videokonsultationen und Ferndiagnosen sind in die ambulante Versorgung integriert.

Den Neubau und die Modernisierung von Krankenhäusern plant auch Lettland, dessen Gesundheitswirtschaft mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro relativ klein ist. Auch hier kommen europäische Fördermittel zum Einsatz, beispielsweise beim Ausbau des Rigaer Stradins Krankenhauses. 

Die Gesundheitssysteme sind im Baltikum ähnlich aufgebaut. In jedem Land entscheidet eine staatliche Institution über die Einkäufe für das öffentliche Gesundheitssystem. Die Krankenhäuser sind zum größten Teil staatlich, die Allgemeinmedizin- und Facharztpraxen werden privat betrieben. 

Die Zuzahlung zur gesetzlichen Krankenversicherung ist relativ hoch: In Estland müssen die Menschen etwa ein Viertel der Kosten selbst tragen, in Lettland und Litauen sogar ein Drittel. Estland und Lettland verfügen über deutlich weniger ärztliches und pflegerisches Personal als der Durchschnitt der EU. In Estland sinkt die Zahl der einheimischen Ärzte und Pflegekräfte sogar. Lettland hingegen erhöhte die Ausbildungskapazitäten für Mediziner signifikant und setzte finanzielle Anreize, damit Ärzte einerseits im öffentlichen Sektor tätig bleiben und die Versorgung in ländlichen Regionen übernehmen. Die Zahl der Ärzte in Litauen liegt über dem EU-Schnitt und mit einer Pflegepersonalausstattung auf EU-Niveau kann Litauen sein vergleichsweise aufwändiges Krankenhauswesen noch gut betreiben.

Estland bereitet sich auf den Ernstfall vor

Das Gesundheitssystem in Estland ist zentralisiert. Das Land hat eine einzige Krankenkasse, in der die Bevölkerung versichert ist. Das estnische Gesundheitssystem wird größtenteils über die Lohnsteuer finanziert. Der Estnische Krankenversicherungsfonds (EHIF) ist eine halbautonome öffentliche Einrichtung. Er bündelt den Großteil der öffentlichen Mittel für das Gesundheitswesen und ist für den Einkauf von Gesundheitsdienstleistungen zuständig.

Alle größeren Krankenhäuser in Estland befinden sich in öffentlicher Hand. Sie bieten stationäre Versorgung und den Großteil der ambulanten fachärztlichen Versorgung. 

In Estlands Hauptstadt Tallinn wird zurzeit ein neues Krankenhaus gebaut, der Medizinische Campus Nordestland. Aufgrund der Spannungen mit Russland wird beim Bau nun umgeplant: Unterirdisch soll nun eine Etage mit OP-Sälen, Betten und Schutzräumen hinzukommen. Der Bau wird mit insgesamt 280 Millionen Euro aus EU-Mitteln des ARF-Aufbauplans gefördert. 

Das Gesundheitsministerium schätzt den Bedarf an Medizintechnik für das Zentralkrankenhaus auf rund 60 Millionen Euro. Darüber hinaus steht – für mehr als 46 Millionen Euro – die Anschaffung von Mehrzweckhubschraubern für medizinische Notfälle im Fokus des Aufbauplans. Mit den ARF-Mitteln soll auch das bereits heute fortschrittliche E-Health-System ausgebaut werden. E-Rezepte, elektronische Patientenakten und ein nationales Gesundheitsportal gehören längst zum Alltag der estnischen Bevölkerung.

Lettland: Weniger Zuzahlungen bei Medikamenten

In Lettland ist das Gesundheitsministerium für die Festlegung der nationalen Gesundheitspolitik und -vorschriften zuständig. Der Nationale Gesundheitsdienst NHS sorgt für die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung in Form einer allgemeinen steuerfinanzierten Gesundheitsversorgung. Der NHS ist für die Umsetzung der vom Gesundheitsministerium entwickelten Vorgaben verantwortlich. Anbieter von Medizintechnik müssen Verträge mit dem NHS abschließen. 

Von 2009 bis 2012 führte eine schockartige Reform zu einem dramatischen Rückgang bei der Zahl der Krankenhäuser und zu weitreichenden Veränderungen in den Verwaltungseinrichtungen des Gesundheitswesens. Das Leistungspaket des NHS ist begrenzt. Deshalb müssen Patienten Zuzahlungen für eine Reihe von Dienstleistungen sowie für erstattungsfähige Medikamente leisten. Das soll sich jedoch nun ändern. Lettland hat im Januar 2024 einen Fahrplan für die Umsetzung neuer Gesetze veröffentlicht, durch die mehr Menschen Zugang zu den von ihnen benötigten Arzneimitteln erhalten sollen. Das berichtet die WHO. Dadurch sollen die Ausgaben der Menschen für verschreibungspflichtige Arzneimittel um 15 bis 20 Prozent sinken. Die Erstattung aller erstattungsfähigen Arzneimittel wird deutlich auf mindestens 75 Prozent angehoben. Ziel dieser Reform ist es, den Menschen Zugang zu einer breiteren Palette von Arzneimitteln zu geben, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.

Litauen: Schwerpunkt auf Biotechnologie 

Im Zentrum des litauischen Gesundheitssystem steht der Nationale Krankenversicherungsfonds (NHIF). Er kauft im Namen der versicherten Bevölkerung Leistungen ein. Die Einnahmen des NHIF stammen vor allem aus Lohn- und Gehaltsbeiträgen sowie aus staatlichen Transfers für die nicht erwerbstätige Bevölkerung. Die Gemeinden spielen in Litauen eine wichtige Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen, da sie Eigentümer vieler Primärversorgungszentren und kleiner bis mittlerer Krankenhäuser sind. Sie finanzieren und erbringen auch einige öffentliche Gesundheitsdienste. Der Privatsektor beteiligt sich an der Erbringung von Primär- und Zahnbehandlungen und in zunehmendem Maße auch an der öffentlich finanzierten ambulanten Spezialversorgung.

Aktuell kämpft auch Litauen laut Auskunft seiner Botschaft in Deutschland mit einem wachsenden Fachkraftmängel und immer längeren Wartezeiten bei Fachärzten. Anders aber als in Deutschland können die Termine zentral über ein staatliches Portal vereinbart werden. „Beim Krankenpflegepersonal kämpfen wir mit Problemen wie der Ausbildungsqualität und dem Brain-Drain, also der Abwanderung von Fachkräften. Die Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal sind in Skandinavien, Deutschland und anderen Ländern attraktiver, daran müssen wir anschließen,“ heißt es aus der Botschaft. Die litauische Regierung will deshalb für bessere Arbeitsbedingungen, Gehälter und mehr Anerkennung im Gesundheitssektor sorgen

Litauen hat sich eine ehrgeizige nationale Biotechnologie-Strategie gegeben. Die Life Sciences-Industrie soll wachsen. Bis 2030 soll in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen wie der Innovationsagentur und Invest Lithuania ein Anteil von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über den Pharma- und Biotechnologiesektor erreicht werden. Die litauischen Universitäten und Forschungseinrichtungen setzen ihre Schwerpunkte besonders in Bereichen wie Genomik, Proteomik und Biomedizin. Die Regierung fördert die Forschungsprozesse, um innovative Technologien und Fortschritte in den Biowissenschaften zu beschleunigen, erklärt die litauische Botschaft in Deutschland: "Deutsche Unternehmen können von diesem Wissen profitieren und gemeinsame Forschungsprojekte initiieren.“

Im November letzten Jahres kündigte Litauens Präsident Gitanas Nausėda an, dass die „Vilnius Bio City“, das größte Biotechnologiezentrum Europas, gebaut werden soll. Dieser Schritt ist Teil einer Investition in Höhe von 7 Milliarden Euro unter der Leitung der Northway-Gruppe. Sie umfasst 17 Unternehmen aus den Bereichen Medizin, Gesundheitswesen, Biotechnologie, Pharmazeutika und Investitionen und wird von privaten Investoren und Darlehen unterstützt.

Zusammenfassend kann, dass das Baltikum ein interessanter Markt für deutsche Unternehmen ist. Es gibt einen hohen Bedarf an Arzneimitteln. Investoren, die sich vor Ort in den neu erschaffenen Bio Hubs ansiedeln wollen sind sehr willkommen. 

Dieser Inhalt gehört zu

Feedback
Anmeldung

Bitte melden Sie sich auf dieser Seite mit Ihren Zugangsdaten an. Sollten Sie noch kein Benutzerkonto haben, so gelangen Sie über den Button "Neuen Account erstellen" zur kostenlosen Registrierung.