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Wirtschaftsumfeld | China | Investitionsstandort

Vom Wunderkind zum Stiefkind

Lange war es riskanter, nicht in China vor Ort zu sein. Inzwischen trüben innen- wie geopolitische Risiken die Geschäfte. Neue deutsche Firmen kommen kaum mehr nach China.

Von Corinne Abele | Shanghai

Die Stimmung ist sowohl in den Unternehmenszentralen in Deutschland als auch bei der lokalen Managementspitze vor Ort nicht gut. „Der sonst für China so typische Optimismus schwindet“, stellte Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer (EUCCC), in einem Pressegespräch im September 2022 fest.

Zwischen "zwei Realitäten"

Dabei scheinen viele europäische Firmen in China 2022 zumindest ihr Vorjahresniveau anzupeilen – trotz der endlosen Reihe unplanbarer regionaler Lockdowns, inländischer wie internationaler Lieferengpässe und nahezu weltweiter Konjunkturschwäche.

Gleichzeitig sehen 77 Prozent der europäischen Unternehmen in China die Anziehungskraft der Volksrepublik als Investitionsstandort schwinden, so die im Juni 2022 veröffentlichte Geschäftsklimaumfrage der EUCCC. „Wir sehen uns zwei Realitäten gegenüber“, betonte die EUCCC-Vizepräsidentin Bettina Schön-Behanzin auf dem 11. VDMA China Mechanical Engineering Summit des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) in Shanghai Ende September 2022.

Chinas Bruttoinlandsprodukt könnte 2022 gemäß Nomura nur um 2,8 Prozent zulegen, die Asiatische Entwicklungsbank schätzt das Wachstum auf 3,3 Prozent. Obwohl die Volksrepublik also 2022 auf ihr niedrigstes Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten zusteuert, erzielten 79 Prozent der im Rahmen der EUCCC-Geschäftsklimaumfrage befragten europäischen Firmen höhere Gewinne als im Vorjahr. Gleichzeitig sprachen 60 Prozent von einem schwierigeren Geschäftsumfeld und 86 von 372 antwortenden Firmen erwogen, laufende oder geplante Investitionen außerhalb Chinas zu verlagern.

Wer noch nicht da ist, kommt nicht mehr

Sowohl Jörg Wuttke als auch die Rhodium-Gruppe in ihrer jüngsten Studie gehen davon aus, dass seit Ausbruch der Pandemie 2020 so gut wie kein europäisches Unternehmen neu im Reich der Mitte investiert hat. „China bleibt zurück und eröffnet damit unfreiwillig anderen Ländern die Möglichkeit, europäische Investitionen anzuziehen“, erklärt Wuttke. 

Aufgrund der benötigten Finanzkraft und des langen Atems haben seit jeher kleinste und kleinere mittelständische Unternehmen vor allem Export und Import nach und aus China betrieben, aber nicht direkt investiert. Laut Aussagen des VDMA-Präsidenten Karl Haeusgen auf dem 11. VDMA-Summit in Shanghai liegen Maschinenbauer, die in China investiert haben und präsent sind, deutlich über der durchschnittlichen Firmengröße im VDMA in Deutschland. In der Regel zählen sie über 150 Mitarbeiter. Gemäß der Rhodium-Gruppe stellte der Maschinenbau 2018 bis 2021 zwar 11 Prozent der abgeschlossenen Direktinvestitionsprojekte, aber nur 3 Prozent der gesamten Transaktionssumme der Direktinvestitionen.

Kfz-Branche toppt europäische Direktinvestitionen

Die Volksrepublik war und wird immer mehr ein Standort für die großen internationalen Player. „Kleine Unternehmen stellen ihr Chinageschäft mehr oder weniger auf Autopilot und warten ab“, so Wuttke. Laut der Studie der Rhodium-Gruppe stellten die Top-Ten-Investoren in den vergangenen vier Jahren (2018 bis 2021) im Durchschnitt jährlich vier Fünftel der europäischen Direktinvestitionen (FDI). Immer wichtiger sind als Zielbranchen fünf Sektoren geworden: Kfz, Nahrungsmittelherstellung, Pharmazie und Biotech, Chemie sowie die Produktion von Konsumgütern. Entfielen auf sie im Zeitraum 2008 bis 2012 nur 57 Prozent der europäischen FDI, erreichte ihr Anteil 2018 bis 2021 fast 70 Prozent. 

Top Fünf Sektoren europäischer Direktinvestitionen in China (Anteil in Prozent in Klammern)

2000 bis 2007

2008 bis 2012

2013 bis 2017

2018 bis 2021

1

Kunststoff, Gummi und andere Materialien (14)

Kfz-Ausrüstung und Komponenten (24)

Kfz-Ausrüstung und Komponenten (32)

Kfz-Ausrüstung und Komponenten (31)

2

Finanzdienstleistung (13)

Finanzdienstleistung (9)

Chemikalien (10)

Lebensmittelverarbeitung und -verteilung (14)

3Kfz-Ausrüstung und Komponenten (11)

Konsumgüterherstellung (8)

Lebensmittelverarbeitung und -verteilung (10)

Pharmazeutika und Biotechnologie (10)

4

Chemikalien (11)

Chemikalien (8)

Kunststoff, Gummi und andere Materialien (6)

Chemikalien (9)

5

Kohle, Erdöl und Erdgas (9)

Industriemaschinen (7)

Konsumgüterherstellung (5)

Konsumgüterherstellung (5)

Quelle: Rhodium Group

Eine Sonderstellung nimmt die Kfz-Branche ein, auf die 2018 bis 2021 laut der Rhodium-Gruppe durchschnittlich etwa ein Drittel der europäischen Direktinvestitionen entfiel. Es verwundert daher wenig, dass in diesem Zeitraum allein 43 Prozent der FDI aus Deutschland kamen. Bereits seit 2008 fließen die meisten europäischen Direktinvestitionen jährlich in die Kfz-Branche. Aufgrund der Übernahme seines Joint-Venture-Partners stellte BMW im 1. Quartal 2022 insgesamt 85 Prozent der Gelder aus Europa. Ohne die Großinvestitionen von BMW und BASF wären die deutschen Direktinvestitionen nach China wohl rückläufig, schrieb das Handelsblatt am 21. September 2022. 

Realwirtschaftliches Decoupling

Volkswagen, Daimler, BMW und BASF zählen regelmäßig zur Spitzengruppe der fünf europäischen Top-Investoren, so die Rhodium-Gruppe. Ziel ist es, den chinesischen Markt aus China heraus und die übrigen Märkte weltweit ohne die Volksrepublik zu bedienen – die realwirtschaftliche Entkopplung der Märkte (Decoupling). Die inländischen Wertschöpfungsketten werden zulasten kostspieliger und zeitlich schwierig planbarer Importe ausgebaut.

Wie die im Frühjahr 2022 durchgeführte Umfrage der Deutschen Auslandshandelskammer (AHK) Greater China zu Innovation in China zeigt, forscht bereits etwa ein Viertel und entwickelt rund ein Drittel der 384 antwortenden deutschen Firmen im Reich der Mitte für den globalen Markt. Das Konzept "From China to the World" gerät jedoch stärker unter Druck.

Die politischen Risiken werden sowohl in der Volksrepublik als auch global immer größer. Zwar gibt es nach wie vor wachsenden Bedarf – beispielsweise in den Bereichen CO₂-reduzierte Produktionsprozesse und Produkte, Automatisierung, Kfz-Zulieferung und Elektromobilität oder Recycling. Doch zunehmend prägen Ideologie und Partei das Wirtschaftsklima im Land. „Ideologie sticht Wirtschaft“, fasst auch Jörg Wuttke zusammen.

In Alternativen zu China denken

Zu sehen ist dies auch an den weitgehend geschlossenen Grenzen sowie den zahlreichen temporären Lockdowns in Regionen im ganzen Land. Diese Nicht-Planbarkeit trägt erheblich dazu bei, dass 2022 eine schnelle wirtschaftliche Erholung wie 2020 und 2021 bislang nicht gelingt. Unternehmensverkleinerungen, Umstrukturierungen, aber auch Verkäufe beziehungsweise Zukäufe von Firmen werden von deutschen Klienten stärker thematisiert, berichten Kanzleien vor Ort. „Die Welt wird nicht auf China warten“, warnt Wuttke. In den Unternehmensführungen hat das Denken in "Alternativen zu China" begonnen.

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