Wirtschaftsumfeld | EU | Arbeitsmarkt
Arbeitskräfte in der EU werden rarer
Besonders exportstarke Länder leiden unter Fachkräftemangel. Verstärkt werden Arbeitskräfte aus Drittstaaten angeworben. Aber es lassen sich noch andere Potenziale heben.
04.12.2024
Von Regina Wippler, Torsten Pauly | Bonn, Mailand
Die Arbeitsmärkte in der EU sind angespannt. Die EU-weite Quote der Jobsuchenden ist von 7 Prozent 2020 auf 5,8 Prozent 2023 gesunken. Besonders niedrig war die Arbeitslosenquote 2023 bei Menschen mit Hochschulbildung mit 3,8 Prozent und bei solchen mit Berufsausbildung mit 4,8 Prozent.
Generell leiden exportstarke, Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftende Länder unter Personalmangel. Die EU-weit niedrigsten Arbeitslosenquoten hatten 2023 Hochlohnländer wie Deutschland, die Niederlande und Irland, aber auch Polen, Tschechien und Slowenien, wo das Verdienstniveau geringer ist. Selbst in Ländern mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote wie Spanien oder Finnland klagen Unternehmen über einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.
Dieser wird in den nächsten Jahren zunehmen, weil die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. In allen 27 EU-Ländern lag die Geburtenrate pro Frau 2022 bei unter zwei Kindern. Einer Prognose der Europäischen Kommission zufolge geht die Anzahl der Erwerbsfähigen zwischen 20 und 64 Jahren in der EU von 2023 bis 2030 von 264 Millionen auf 258 Millionen zurück.
Regionale Potenziale nutzen
In den meisten Ländern gibt es regionale Unterschiede. In Frankreich, Italien oder der Slowakei konzentrieren sich eine hohe Wirtschaftskraft und Fachkräftemangel auf einige Landesteile, während andere Regionen strukturschwach sind. Solche Brain-Drain-Regionen können für Investoren interessant sein, weil die Produktionskosten dort meist attraktiv sind. Die AHK Polen zum Beispiel rät deutschen Unternehmen, sich auch jenseits der Ballungsräume in den ostpolnischen Regionen umzuschauen.
Arbeitsmärkte in Mitteleuropa sind leergefegt
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein Wettbewerbsvorteil
Aber es gibt noch ungenutzte Reserven am Arbeitsmarkt. Die Erwerbsquoten variieren in den einzelnen Staaten zum Teil stark. Ein Grund ist die unterschiedliche Teilhabe von Männern und Frauen am Arbeitsleben. Viele qualifizierte weibliche Arbeitskräfte sind für einige Jahre nicht im Beruf, da sie sich um die Kinderbetreuung kümmern. Angebote wie Homeoffice, flexible Arbeitszeiten oder Kooperationen mit Kinderbetreuungsstätten können das Einstellungspotenzial auch in angespannten Arbeitsmärkten erhöhen.
Wenig Arbeitsuchende und gleichzeitig eine stark unterdurchschnittliche Beschäftigungsrate von Frauen wiesen 2023 Irland, Malta, Polen, Rumänien und Tschechien auf. In anderen Ländern ist die Berufstätigkeit von Männern und Frauen fast gleich hoch: Eine Diskrepanz von unter 5 Prozent gab es 2023 in Estland, Finnland, Litauen und Schweden.
Besonders in Skandinavien spielt die Familienorientierung vor allem bei Männern eine größere Rolle als in Deutschland. Laut Marcus Honkanen von der deutsch-finnischen Personalberatung Nordic Minds ist es auch unter männlichen Geschäftsführern und Führungskräften üblich, Elternzeit zu nehmen oder von zuhause aus zu arbeiten.
Auch jenseits von Familienpflichten: Die jüngere Generation legt viel Wert auf die Work-Life-Balance. Aktuelle Studien vom Personaldienstleister Randstad oder dem Jobportal Stepstone zeigen, dass Unternehmen mit flexiblen Arbeitszeitangeboten und mobilem Arbeiten bei der Generation Z europaweit punkten.
Mangelnde Mobilität ausgleichen
Arbeiten im Homeoffice bietet noch einen Vorteil: In Ländern wie Ungarn, Kroatien, Litauen oder auch Frankreich und Schweden sind die Arbeitnehmenden oft wenig mobil. Homeofficeangebote vergrößern den Einzugsbereich, um Personal zu finden. Wo das Arbeiten von zuhause aus nicht möglich ist, können Unternehmen ihre Beschäftigten mit Pendlerbussen oder Fahrkostenzuschüssen unterstützen. Der Automobilzulieferer Hella bietet an seiner Produktionsstätte in Litauen zum Beispiel für seine Beschäftigten einen Sammelfahrdienst an.
Jugend- und Langzeitarbeitslose qualifizieren
Schulungskonzepte nach deutschem Vorbild können ein entscheidendes Plus bei der Arbeitnehmersuche sein. Laut Eurostat war die Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen mit 14,3 Prozent in der EU im August 2024 mehr als doppelt so hoch wie die der gesamten Erwerbsbevölkerung. In Spanien, Portugal oder Schweden lag die Quote weit über dem Durchschnitt.
Viele Arbeitsuchende sind für die offenen Stellen nicht hinreichend qualifiziert. In Frankreich bieten daher Großunternehmen wie Hermès, Schneider Electric oder Saint-Gobain eigene Ausbildungsgänge an. In Kroatien werden häufig Mitarbeitende frisch von der Universität zwischen sechs und zwölf Monate unternehmensintern aus- und weitergebildet. Unternehmen können auch mit Bildungseinrichtungen kooperieren, um Nachwuchs zu finden. Auch einige Auslandshandelskammern unterstützen die örtlichen Stellen zusammen mit ihren Mitgliedern beim Aufbau einer dualen Berufsausbildung.
Der Anteil der Langzeitarbeitslosen, die über ein Jahr ohne Arbeit waren, ist in den letzten zehn Jahren zwar gesunken. Im Jahr 2023 betrug er im EU-Durchschnitt 37 Prozent, in der Slowakei jedoch 67 Prozent, in Italien und Griechenland jeweils 56 Prozent. Auch hier helfen kreative Lösungen: So bietet Rohlig SUUS Logistics, einer der größten Logistikdienstleister in Polen, Personen im fortgeschrittenen Lebensalter ein zweimonatiges Umschulungsprogramm an.
Personal aus Drittstaaten wird zunehmend wichtig
Die Lücken auf den europäischen Arbeitsmärkten lassen sich damit indes kaum schließen. Daher werben viele Länder verstärkt Personal außerhalb der EU an. In Spanien oder Portugal stehen Arbeitskräfte aus Lateinamerika hoch im Kurs, weil es hier kaum Sprachbarrieren gibt. In Mittelosteuropa stammen viele ausländische Beschäftigte aus der Ukraine.
Auch die Fachkräfteimmigration aus Asien ist ein Thema. So stellen Arbeitgeber in Italien und Malta Personal vom indischen Subkontinent, in Bulgarien zudem aus Zentralasien ein. In Tschechien dominieren Vietnam, die Mongolei und Indien als Herkunftsstaaten. Hier sollten Firmen lokale Netzwerke suchen und gegebenenfalls mit den Arbeitsämtern vor Ort kooperieren.