Wirtschaftsumfeld | Ungarn | Arbeitskräfte
Fachkräfte
Fehlende Arbeitskräfte bremsen die ungarische Wirtschaft. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Unternehmen entwickeln eigene Fachkräfteinitiativen.
05.07.2024
Von Kirsten Grieß | Budapest
Seit Mitte 2022 erlebt der ungarische Arbeitsmarkt leicht steigende Arbeitslosenzahlen. Im April 2024 lag die Arbeitslosenquote nach ILO-Berechnung bei 4,4 Prozent. Für Ungarn ist das hoch und Folge einer schwachen Konjunktur. Ungarn rutschte 2023 in die Rezession, die geringe Nachfrage auf wichtigen Exportmärkten belastet die ungarische Wirtschaft. Allerdings scheint die Trendwende in Sicht: Für 2024 prognostiziert die Europäische Kommission ein verhaltenes Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosenzahlen.
Ungarn im weltweiten VergleichFolgende Karte ermöglicht den Vergleich zwischen zahlreichen Ländern weltweit. Bitte beachten Sie, dass die Werte in der Karte aus international standardisierten Quellen stammen und somit gegebenenfalls von Angaben aus nationalen Quellen im Text abweichen können. |
Deutsche Unternehmen sind besorgt
Die niedrige Nachfrage im In- und Ausland ist derzeit das größte Geschäftsrisiko für deutsche Unternehmen in Ungarn. Das meinten die befragten Mitglieder in der Frühjahrsumfrage der Deutsch-Ungarischen Industrie und Handelskammer (AHK Ungarn). Knapp ein Fünftel plant 2024 Personal abzubauen. Das ist der höchste Wert seit 2013. Auf den Plätzen 2 und 3 folgten Unsicherheiten mit Blick auf steigende Lohnkosten und den Arbeitskräftemangel.
Knappe Arbeitskräfte sind ein strukturelles Problem der stark industrialisierten ungarischen Wirtschaft. Das betrifft qualifizierte Fachkräfte in so gut wie allen Wirtschaftszweigen, zunehmend aber auch Arbeitskräfte in der Produktion, der Logistikbranche, der Bauwirtschaft und im Dienstleistungssektor. Und die Situation wird sich weiter verschärfen, wenn geplante industrielle Großinvestitionen verwirklicht werden. Die staatliche Investitionsagentur HIPA vermeldete allein für die Jahre 2022 und 2023 neue ausländische Investitionsprojekte im Wert von 19,6 Milliarden Euro. An die 35.000 Arbeitsplätze sollen damit geschaffen werden.
Hohe Nachfrage bei sinkendem Arbeitskräfteangebot
Der hohen Nachfrage in der Industrie steht grundsätzlich ein zu geringes Arbeitskräfteangebot gegenüber. Ungarns Bevölkerung schrumpft seit Jahren. Nach Daten von Eurostat lag die Geburtenrate 2023 mit 1,6 Lebendgeburten pro Frau zwar leicht über dem EU-Durchschnitt. Sie ist aber zu niedrig, um die Alterung der ungarischen Gesellschaft zu stoppen.
Abwanderung verschärft die Situation. Das im EU-Vergleich unterdurchschnittliche Lohnniveau ist für Investoren ein Standortvorteil. Für gut ausgebildete, international gefragte Fachkräfte sind niedrige Löhne hingegen ein Abwanderungsgrund. Nach Expertenangaben hat sich dieser Trend in den letzten zehn Jahren deutlich verstärkt: Geschätzt arbeiten zurzeit über 500.000 Ungarn im Ausland.
Flächendeckende duale Ausbildung fehlt
Ein hausgemachtes Problem ist das unterfinanzierte Bildungssystem. Der Anteil der Bildungsausgaben am ungarischen Bruttoinlandsprodukt lag 2020 deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Das gilt auch für den Anteil junger Hochschulabsolventen. In puncto Fremdsprachenkenntnisse ist Ungarn schlecht aufgestellt. Bei der jährlichen Erhebung des Schweizer Instituts IMD "World Talent Ranking Report" lag Ungarn 2023 bei der Bewertung der Sprachkenntnisse des Arbeitskräftepools auf Rang 59 von 64 untersuchten Ländern.
Defizite beklagt die Industrie auch bei der beruflichen Bildung. Ungarn ist es nicht gelungen, ein flächendeckendes duales Berufsausbildungsmodell zu etablieren. Aufgefangen wird das mitunter durch betriebliche Initiativen. Große deutsche Unternehmen sind hier inzwischen stark engagiert und koordinieren zusammen mit lokalen Bildungseinrichtungen eigene Ausbildungsprogramme.
Regionales Ungleichgewicht beim Arbeitskräftepotenzial
Laut nationalem Statistikamt erreichte Ungarn im 3. Quartal 2023 eine Erwerbsquote von 75 Prozent, das sind 4,3 Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt. Zugleich ist die Teilzeitquote sehr gering und betrug 2022 nur 4,2 Prozent. Doch die Beschäftigungsquote variiert stark: In den westlichen Regionen, der Hauptstadt Budapest und in entwickelten Industriezentren ist der Arbeitskräftepool mit einer Erwerbsquote von bis zu 81 Prozent faktisch ausgeschöpft. In einigen südlichen und östlichen Landesteilen liegt die Quote bei 70 Prozent. Dieses Ungleichgewicht hat die ungarische Regierung erkannt und lockt Investoren seit einiger Zeit mit speziellen Anreizen gezielt in diese Gebiete.
Typisch für den ungarischen Arbeitsmarkt ist die geringe Mobilität: Weder wollen die meisten Beschäftigten lange pendeln, noch für einen neuen Arbeitsplatz umziehen. Ungarn sind sehr familienorientiert und in ihrer örtlichen Gemeinschaft verwurzelt. Rund 90 Prozent leben in selbst genutztem Wohneigentum, ein kurzfristiger Ortswechsel ist für sie in der Regel keine Option.
Staatliche Beschäftigungsprogramme sollen helfen
Die Regierung hat erkannt, dass der Arbeitskräftemangel die Attraktivität des Industriestandorts Ungarn zunehmend bedroht. Um dem zu begegnen, erleichterte die Regierung ab 2017 die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten. Doch die Bevölkerung steht der Arbeitsmigration sehr kritisch gegenüber, was das Regierungskabinett um Ministerpräsident Viktor Orbán Anfang 2024 dazu veranlasste, die Beschäftigungsvoraussetzungen für Nicht-EU-Bürger erneut zu verschärfen. Kommt es zu Einstellungen, werden diese in der Regel über Zeitarbeitsfirmen abgewickelt.
Wirtschaftsminister Márton Nagy will als Alternative massiv inländische Arbeitskräfte mobilisieren. Die Regierung plant, die Beschäftigtenquote auf 85 Prozent zu heben. Mehrere Förderprogramme dazu laufen bereits. Im Fokus stehen junge Nichterwerbstätige und ältere, benachteiligte Arbeitslose. Finanziert werden unternehmensinterne Ausbildungsprogramme, Beihilfen für Löhne, Wohngeld oder Fahrtkostenzuschüsse. Rund 1,2 Milliarden Euro aus dem EU-Programm GINOP Plus stehen dafür zur Verfügung. Fachleute bezweifeln allerdings die Wirksamkeit der Maßnahmen. Insbesondere in den industriellen Zentren könnte am Zuzug ausländischer Arbeitskräfte mittelfristig kaum ein Weg vorbeiführen.