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Klima für örtliche Pharmakonzerne verschlechtert sich
Die britische Pharmaindustrie ist von immer höher werdenden Abgaben stark gebeutelt. Neue Verhandlungsrunden sollen Abhilfe schaffen und Investitionen fördern.
11.07.2023
Von Leonie Schneiderhöhn | Bonn
Der nationale Gesundheitsservice NHS, das britische Gesundheitsministerium und der britische Verband der Pharmaindustrie ABPI haben Anfang Mai 2023 Verhandlungen aufgenommen, um das freiwillige System für Markenmedikamente, Preisgestaltung und Zugang (VPAS) anzupassen. Mit günstigeren Medikamenten, mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung und einem schnelleren Zulassungsprozess für neue Arzneimittel soll die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Königreichs gestärkt werden. Das neue Modell soll Anfang 2024 in Kraft treten. Das bisherige VPAS läuft noch bis Ende 2023 und konnte dem unterfinanzierten NHS so bisher umgerechnet rund 8 Milliarden Euro sparen.
Alle Pharma-Unternehmen, die den Hauptabnehmer NHS mit lizenzierten Markenarzneimitteln beliefern, unterliegen einem von zwei Programmen, mit denen die Gesamtausgaben des NHS für Markenarzneimittel kontrolliert werden sollen. Das "Voluntary Scheme for Branded Medicines Pricing and Access" (VPAS) ist eine freiwillige Vereinbarung zwischen der britischen Regierung, dem NHS und der britischen Pharmaindustrie. Ihr Hauptziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen niedrigen NHS-Arzneimittelkosten und einem fairen Ertrag für die Industrie zu erreichen. So funktioniert es:
Ein großer Vorteil des VPAS ist das schnelle Zulassungsverfahren von neuen Medikamenten für den NHS. Sind diese besonders innovativ, können Unternehmen sogar von einer Zahlungsbefreiung in den ersten 36 Monaten nach Einführung profitieren. Jedes Unternehmen, das sich gegen eine Teilnahme am VPAS entscheidet, wird automatisch in das gesetzliche System aufgenommen. Es besagt seit April 2023, dass 27,5 Prozent der individuellen Umsätze an das DHSC gezahlt werden müssen und verfügt über keine besonderen Vorteile. Quelle: House of Commons Library, UK Parliament 2023 |
Pharmabranche sorgt sich um Investitionen in F&E
Das Branchensprachrohr der britischen Pharmaindustrie ABPI sieht den Verhandlungen mit Unruhe entgegen. Denn als Folge der Pandemie und der hohen Nachfrage nach Markenprodukten sind die Zahlungen der Pharmaunternehmen an das DHSC in historische Höhen gestiegen. Hersteller von Markenarzneimitteln müssen im Jahr 2023 26,5 Prozent ihres Umsatzes, d.h. umgerechnet fast 3,8 Milliarden Euro, an das DHSC abführen. Dies steht 0,7 Milliarden Euro im Jahr 2021 und 2,1 Milliarden Euro im Jahr 2022 gegenüber.
Zwei amerikanische Pharmariesen, AbbVie und Eli Lilly, entschieden sich deshalb im Januar 2023, das VPAS zu verlassen. Die Höhe der Zahlungen sei geradezu "bestrafend". Auch das deutsche Pharmaunternehmen Bayer und der amerikanische Konzern Bristol Myers Squibb verkleinern ihr Geschäft im Vereinigten Königreich und ziehen sich aufgrund der "innovationsunfreundlichen Situation" langsam aus dem britischen Markt zurück, wie ein Bericht der Financial Times darlegt.
Sollten die Verhandlungen nicht fruchtbar sein, könnten Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) über die nächsten fünf Jahre in Höhe von bis zu 6,6 Milliarden Euro ausbleiben. ABPI prognostiziert, dass daraus ein wirtschaftlicher Schaden in Höhe von umgerechnet 67,4 Milliarden Euro bis 2058 entstehen könnte.
Lipid-regulierende Medikamente sind besonders gefragt
Im Jahr 2021 erzielten Unternehmen auf dem britischen Markt für Pharmazeutika rund 66,8 Milliarden Euro Umsatz. Innerhalb von zehn Jahren stieg der Umsatz um etwa 73 Prozent.
Die Pharmaproduktion legte im Coronajahr 2020 um 13,6 Prozent im Vorjahresvergleich zu. Das prognostizierte Wachstum im Vereinigten Königreich von 4,1 Prozent im Jahr 2023 übertrifft das seiner Konkurrenten in Deutschland (1,2 Prozent), Frankreich (2,6 Prozent) und Spanien (3,7 Prozent). Bis 2026 wird von den Spezialisten von QBE Europe mit einem durchschnittlichen Wachstum von 1,3 Prozent gerechnet. Damit liegt das Königreich vor den nordischen Ländern (1 Prozent) und Italien (1,1 Prozent), aber hinter Deutschland (2 Prozent), Spanien (2,5 Prozent) und Frankreich (2,6 Prozent).
Im Fiskaljahr 2021/22 wurden in England 1,05 Milliarden verschreibungspflichtige Artikel in Apotheken und Vertragsapotheken verkauft. Dies ist ein Zuwachs von 2,65 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Markenarzneimittel, die unter die VPAS-Regelung fallen, machen etwa 30 Prozent aller verschreibungspflichtigen Arzneimittel in England aus.
Unter die Arzneien auf Rezept fielen überwiegend Medikamente, die Erkrankungen wie Demenz, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleibigkeit behandeln. Fast ein Drittel der Briten erhielten verschreibungspflichtige Medikamente, die gegen chronische Schmerzen, Angststörungen, Schlafmangel und neurologische Krankheiten helfen sollen.
Typ | Verschriebene Artikel (in Millionen Stück) | Kosten (in Millionen Euro) *) | Nutzung |
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Lipid-regulierende Medikamente | 78,0 | 134,9 | Statine - hoher Cholesterinspiegel |
Medikamente des Renin-Angiotensin-Systems | 65,4 | 218,6 | Bluthochdruck - Herzerkrankungen |
Protonenpumpeninhibitoren | 62,2 | 114,8 | Verdauungsstörungen oder Magengeschwüre |
Kalzium-Kanal-Blocker | 42,4 | 122,1 | Bluthochdruck - Herzerkrankungen |
Antidiabetische Medikamente | 41,6 | 633,7 | Diabetes |
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer | 40,3 | 76,9 | Depressionen |
Beta-Adrenozeptor-Blocker | 39,5 | 79,0 | Bluthochdruck - Herzkrankheiten |
Nicht-Opioid-Analgetika und zusammengesetzte Präparate | 34,5 | 148,8 | Schmerzlinderung |
Thrombozytenaggregationshemmer | 33,3 | 77,5 | Senkung des Risikos von Herzinfarkten und Schlaganfällen |
Brexit wirkt sich zunehmend negativ aus
Die Pharmabranche in Großbritannien zählt länderbezogen weltweit zu den Top-10-Produzenten. Das Königreich exportierte 2022 pharmazeutische und medizinische Produkte im Wert von insgesamt 29,5 Milliarden Euro. Im selben Jahr importierte das Königreich Pharma-Produkte im Wert von 35,4 Milliarden Euro. Der Handel mit Arzneimittel und Diagnostika ist für das Land extrem wichtig. Nur Gas, Öl und Autos hatten einen höheren Stellenwert. Nach Autos (etwa 20 Milliarden Euro) sind Pharmaprodukte (etwa 4,4 Milliarden Euro) das wichtigste Importgut Großbritanniens aus der Bundesrepublik. Das macht Deutschland zu einem der wichtigsten britischen Handelspartner.
Laut einer aktuellen Analyse der Cambridge University ist das Vereinigte Königreich in Bezug auf den Handelsbilanzsaldo bei Arzneimitteln zwischen 2010 und 2020 global von Platz 4 auf Platz 98 zurückgefallen. Die Hauptgründe für diesen Abstieg sind das VPAS und der Brexit. Diese haben dazu geführt, dass die britische Insel als Investitionsstandort im internationalen Vergleich an Attraktivität einbüßen musste. Viele Unternehmen ziehen deswegen den Nachbarn Irland vor.