Wirtschaftsausblick | Argentinien
Wirtschaft wächst wieder, aber die Rosskur hat ihren Preis
Die Prognosen für 2025 stehen auf Wachstum. Argentinien lässt die Rezession hinter sich. Die Marktreformen zeigen ihre Wirkung, führen aber zu großen Verwerfungen.
12.12.2024
Von Stefanie Schmitt | Santiago de Chile
Top-Thema: Schafft Argentinien 2025 die Trendwende?
Nach Jahren der Krise soll die Wirtschaft ab 2025 wieder Tritt fassen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert für 2025 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,6 und für 2026 von 3,8 Prozent. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für 2025 sogar mit einem Plus von 5 Prozent. Wachstumstreiber sind vor allem die Anlageinvestitionen. Besonders die im Zuge des Investitionsfördergesetzes RIGI angekündigten ausländischen Großprojekte sollen neuen Schwung bringen.
Erste positive Signale gibt es bereits, darunter aus der Landwirtschaft. Die Handelsbörse Rosario prognostiziert für 2024/25 bei "normalem" Wetter eine Ernte von rund 143,2 Millionen Tonnen Getreide. Das wären 9,3 Prozent mehr als in der Vorsaison. Die Exporteinnahmen könnten um 15,2 Prozent auf 35,4 Milliarden US-Dollar (US$) steigen. Argentinien kann die Dollar gut gebrauchen, um die Devisenreserven weiter aufzufüllen.
Rohstoffsektor: Erdöl und Lithium auf Rekordniveau
Auch der Bergbau entwickelt sich gut. So lag die Produktion in dem Sektor im September 2024 um 3,7 Prozent über dem Vorjahres- und 4,5 Prozent über dem Vormonatswert. Dies zeigen Zahlen des Statistikamts INDEC. Motor ist hauptsächlich die Erdölförderung. Der Gassektor wird von der im November 2024 eingeweihten Umkehrpipeline Gasoducto del Norte profitieren. Sie wird die argentinischen Nordprovinzen mit heimischem Gas versorgen, was dem Staat jährlich 1 Milliarde US$ an Devisen einspart. Perspektivisch ist an Gasexporte gedacht.
Der Lithiumabbau boomt. Im September 2024 lag die Produktion um 63 Prozent höher als vor Jahresfrist. Trotz niedriger Weltmarktpreise sind weitere Großinvestitionen zu erwarten: Posco (Südkorea) treibt die zweite und dritte Phase seines 2 Milliarden US$ teuren Lithiumprojekts im Salar del Hombre Muerto voran. Eramine, das Joint Venture von Eramet (50,1 Prozent/Frankreich) und Tsingshan (49,9 Prozent/China), fährt seit Juli 2024 im Salar Centenario-Ratones die Produktion hoch. Ganfeng (China) prüft eine weitere Investition von 1 Milliarde US$.
Doch nicht überall ist die Stimmung gut. Nicht grundlos wird die Wirtschaft 2024 schrumpfen. Der IWF erwartet einen BIP-Rückgang von 3,5 Prozent, die OECD sogar von 3,8 Prozent.
Wirtschaftsentwicklung: Wie viele Ungleichgewichte erträgt das Land?
Seit Javier Milei im Dezember 2023 sein Amt als Staatspräsident antrat, unterzieht er das Land einer Schocktherapie. Um Staat und Wirtschaft zu sanieren, fährt er einen rigiden Spar- und Antiinflationskurs. Öffentliche Bauaufträge wurden gestoppt, Tausende Staatsangestellte entlassen, Subventionen zurückgeschraubt sowie Renten und Zuschüsse für Universitäten mehr oder weniger eingefroren.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Inflation bewegte sich im Oktober 2024 bei für Argentinien sensationellen 2,7 Prozent im Vergleich zum Vormonat (im Jahresvergleich aber immer noch satte 193 Prozent). Seit Januar weist das chronisch defizitäre Staatsbudget ein Plus auf. Die Währung hat sich stabilisiert – der Unterschied zwischen Schwarzmarkt- und offiziellem Wechselkurs ist zuletzt auf 1 Prozent geschrumpft (bei Amtsantritt: 153 Prozent).
Hohe Armutsquote, tausende Insolvenzen
Doch der Preis der Erfolge ist hoch: Die Armutsquote stieg laut INDEC im 1. Halbjahr 2024 auf 53 Prozent (Ende 2023: rund 40 Prozent). Der private Konsum ist im Keller. Industrieproduktion und Bausektor brachen ein. Viele Dienstleister kämpfen um ihre Existenz. Zwischen Januar und August verringerte sich die Zahl der Unternehmen um rund 11.000.
Entsprechend gespalten ist die Stimmung bei den Unternehmen. Marktöffnungen, die Importeuren guttun, schaden dem produzierenden Gewerbe, dessen Kosten nur eine Richtung kennen: nach oben. Ob nach dem eingangs erwähnten Fördergesetz RIGI für Großinvestitionen das angekündigte "Mini-RIGI" den kleineren und mittleren Unternehmen noch rechtzeitig helfen wird, ist ungewiss – bislang sind weder ein Zeitplan noch konkrete Maßnahmen bekannt.
Nach wie vor fehle es an strukturellen Reformen für produzierende Unternehmen, gerade auch für kleine und mittlere, sagt Cristina Arheit-Zapp, Eigentümerin des Unternehmens Sin Par S.A. Wichtig sei ein Ausgleich für die der stark gestiegenen Kosten. Auch der Bürokratieabbau und die Reformen im formellen Arbeitsmarkt gingen nur sehr schleppend voran.
Angesichts der Armutsrate wundert es, wie ruhig Gesellschaft und Opposition bisher die vielen "Zumutungen" – etwa in Form enormer Preiserhöhungen für Wasser, Strom und Benzin – hinnehmen. Nur bei emotionsgeladenen Themen wie dem freien Zugang zu Universitäten oder der vorangetriebenen Privatisierung bestimmter Staatsunternehmen wie Aérolineas Argentinas kam es zwischenzeitlich zu ernsthaften Protesten.
Deutsche Perspektive: Deutsche Firmen begrüßen Erleichterungen im Devisenregime
In der deutschen Unternehmerschaft gibt es wieder deutlich mehr Optimismus, sagt Julieta Barra, Leiterin Außenhandel an der AHK Argentinien. Dazu tragen nicht zuletzt die kontinuierlichen Lockerungen des zuvor überaus strikten Devisenregimes bei. Positiv sehen die Firmen auch die Vereinfachung oder Eliminierung bürokratischer Prozesse.
Erst teilweise geklärt seien indessen das Thema der Dividendenzahlungen und die Regulierung der Altschulden in Milliardenhöhe an Lieferanten aus dem Ausland oder an die Mutterhäuser. Einige Firmen konnten ihre Altschulden über den Kauf sogenannter BOPREAL-Anleihen (Bonos para la Reconstrucción de una Argentina Libre) regulieren, wenn auch mit gewissen Risiken und Abschlägen. Andere warteten die Aufhebung der Devisenbeschränkungen ab.
Doch auch aus anderen Bereichen hört die AHK wichtige Signale. Beispielsweise sei geplant, international gängige Sicherheitszertifikate anzuerkennen. "Für viele Unternehmen, die Argentinien beliefern, ist das eine sehr gute Nachricht“, sagt Barra.
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