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Deutschland bezieht immer mehr Metallwaren aus dem Baltikum
In Estland, Lettland und Litauen spielt die Metallverarbeitung eine große Rolle. Die Branche wirbt mit günstigeren Arbeitskosten, kurzen Lieferwege und einer hohen Qualität.
26.06.2023
Von Niklas Becker | Helsinki
- Sehr großer Kundenstamm
- Auftragsfertigung ist Brot- und Buttergeschäft
- Kleinunternehmen prägen die Branche
- Arbeitskosten im Baltikum deutlich gestiegen
- Immer mehr deutsche Firmen bestellen in Estland
- Auch Lettland verzeichnet ein steigendes deutsches Interesse
- Litauens Metallbranche sticht hervor
- Deutsches Interesse an Zulieferern aus dem Baltikum steigt
Am Stadtrand von Tallinn - unweit des Hauptstadtflughafens - liegt die Fabrik des estnischen Metallbearbeiters Radius Machining. Kerngeschäft des auf Lohnfertigung fokussierten Betriebs ist das serielle CNC-Drehen und -Fräsen. Wichtig ist zudem das Auslandsgeschäft. "40 Prozent bis 50 Prozent unserer Produktion geht in den Export", berichtet Eva Laanemäe, Regional-Managerin für Deutschland, Österreich und die Schweiz bei Radius Machining.
Wichtigster Absatzmarkt ist Skandinavien. "Aufgrund der geografischen Nähe", sagt Laanemäe und ergänzt: "Deutschland ist jedoch unser am schnellsten wachsender Markt. Die Nachfrage nach unseren Produkten verdoppelt sich hier jedes Jahr. In einigen Jahren könnte Deutschland Skandinavien überholen und unser wichtigster Absatzmarkt sein."
Sehr großer Kundenstamm
Als Nachfrager aus Deutschland sticht vor allem der Maschinenbau hervor. Aber auch Automobil- und Möbelhersteller oder die Hydraulik- und Elektroindustrie sowie die Medizintechnikbranche bestellen bei Radius Machining. Zu den Kunden des Unternehmens gehören unter anderem der Hersteller von Druckmaschinen Koenig & Bauer sowie der Hersteller von Prüftechnik und Prüfvorrichtungen Tekon Prüftechnik.
Der Metallindustrie kommt in Estland eine große Bedeutung zu. Im Jahr 2020 erwirtschaften die metallverarbeitenden Betriebe nach Zahlen von Eurostat 1,8 Prozent der Bruttowertschöpfung im Land. Die Branche ist damit nach der Holzwirtschaft und der Lebensmittelherstellung der größte Sektor im verarbeitenden Gewerbe. Zum Vergleich: In Lettland und Litauen betrug der Beitrag der Metallindustrie zur Bruttowertschöpfung jeweils 1,1 Prozent und im EU-Durchschnitt 1,4 Prozent.
Auftragsfertigung ist Brot- und Buttergeschäft
Generell sind die estnischen metallverarbeitenden Betriebe vor allem im Bereich der Auftragsfertigung tätig. "Es gibt jedoch auch eine Reihe von Unternehmen, die als Partner für die Fertigung von komplexen Komponenten infrage kommen. Darüber hinaus gibt es mehrere Unternehmen, die umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchführen", sagt Raul Kütt, Member of the Board beim Verband der estnischen Ingenieurindustrie EML, und ergänzt: "Estland ist kein Billiglohnland mehr. Viele Unternehmen versuchen daher, aufgrund der höheren Wertschöpfung, auch Ingenieursdienstleistungen für ihre Kunden zu übernehmen."
Sowohl für die Serienproduktion als auch für Sonderanfertigungen lassen sich laut dem Experten metallverarbeitende Unternehmen im Land finden. Es gebe sogar einige Firmen, die sich auf kleine Losgrößen oder die Prototypenfertigung spezialisiert haben. Estlands Metallbranche ist sehr exportorientiert. Nach Angaben des Verbandes setzen die Firmen 80 Prozent bis 90 Prozent ihrer Produktion im Ausland um. ISO-Zertifikate sind bei den exportierenden Unternehmen Standard.
Kleinunternehmen prägen die Branche
Eurostat zählt fast 1.600 Hersteller von Metallerzeugnissen in Estland. Der Großteil der Betriebe ist im Großraum Tallinn angesiedelt. Zudem sind die Regionen Tartu und Ida-Viru wichtige Cluster für die Branche. Die meisten estnischen Hersteller von Metallerzeugnissen sind Kleinunternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten. Weniger als eine Handvoll Firmen beschäftigt mehr als 250 Mitarbeiter.
Mit rund 650 Betrieben ist der Großteil der metallverarbeitenden Unternehmen im Stahl- und Leichtmetallbau tätig. Auch die Oberflächenveredlung und die Wärmebehandlung ist mit annähernd 500 Unternehmen eine wichtige Sparte. Zu den wichtigsten Kunden der estnischen Hersteller zählen Firmen aus der Automobil- und Elektronikindustrie, aus dem Maschinenbau sowie aus der Medizintechnik und der Bauwirtschaft.
Die estnische, lettische und litauische EU- und Euro-Mitgliedschaft vereinfacht die Geschäftsbeziehungen für deutsche Unternehmen erheblich. Deutsche Firmen und Waren genießen in den drei Staaten einen sehr guten Ruf, was für die Zusammenarbeit mit baltischen Partnern sehr hilfreich ist. "Baltische Firmen sind sehr agil und können - auch aufgrund kleinerer Chargen - schnell reagieren und bei Bedarf ihre Produktion umstellen", sagt Dominic Otto von der Deutsch-Baltischen Handelskammer. Sie gelten dem Experten zufolge zudem als sehr verlässlich: "Versprechen werden eingehalten." |
Arbeitskosten im Baltikum deutlich gestiegen
Estland weist im Vergleich zu den anderen beiden baltischen Staaten die höchsten Arbeitskosten auf. So mussten Firmen im verarbeitenden Gewerbe 2022 im Durchschnitt 15,50 Euro für eine Arbeitsstunde bezahlen. In Litauen waren es 12,50 Euro und in Lettland 11,30 Euro. Das geht aus jüngsten Eurostat-Zahlen hervor. Zudem sind die Arbeitskosten in den drei baltischen Staaten in der jüngeren Vergangenheit kräftiger gestiegen als im EU-Durchschnitt.
Estlands metallverarbeitenden Betriebe können ihre Produkte zwar zu günstigeren Preisen anbieten als Konkurrenten in Deutschland, Schweden oder Finnland. Mit Firmen aus China oder der Türkei können die Esten preislich jedoch nicht konkurrieren.
"Deutsche Unternehmen sollten nicht erwarten, dass sie die zuvor aus China bezogenen Produkte zu gleichen Preisen aus den baltischen Staaten beschaffen können. Sie müssen mit einem Aufschlag rechnen", sagt Dominic Otto, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK Baltikum). "Dafür bieten die drei Staaten sicherere und weniger anfälligere Lieferketten direkt vor der Haustür", sagt der AHK-Experte. "Wir können zudem mit einer hohen Qualität überzeugen“, ergänzt Laanemäe.
Immer mehr deutsche Firmen bestellen in Estland
Eine steigende deutsche Nachfrage nach Metallerzeugnissen - wie von Radius Machining berichtet - ist in Estland kein Einzelfall. Wie Handelszahlen von Eurostat zeigen, setzen die estnischen Unternehmen zunehmend mehr Waren in Deutschland um. Im Jahr 2022 gingen mit 77 Millionen Euro fast 9 Prozent aller Ausfuhren der Hersteller nach Deutschland. Platz drei nach Finnland (33,8 Prozent) und Schweden (14,3 Prozent).
Zwischen 2018 und 2022 wuchsen die estnischen Exporte von Metallerzeugnissen nach Deutschland nominal um 180 Prozent - der mit Abstand größte Zuwachs unter den wichtigsten Auslandsmärkten der Branche. Zum Vergleich: Nach Finnland und Schweden wurde ein Zuwachs um 60 Prozent beziehungsweise 52 Prozent verzeichnet.
Auch Lettland verzeichnet ein steigendes deutsches Interesse
Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Estlands Nachbarland Lettland statt. Dort spielt Deutschland für die Hersteller von Metallerzeugnissen eine kleinere Rolle. Mit knapp 35 Millionen Euro gingen 4,6 Prozent der Exporte der lettischen Branche nach Deutschland. Platz acht im Exportranking. Wie auch in Estland verzeichnete jedoch neben Deutschland kein anderer der wichtigsten Auslandsmärkte einen so deutlichen Anstieg der Ausfuhren zwischen 2018 und 2022.
Die Auftragsfertigung für ausländische Unternehmen spielt für die lettischen Betriebe eine große Rolle. Den Großteil ihrer Waren setzen sie im Ausland um. Dabei hat die lettische Branche in den vergangenen Jahren nicht nur aus Deutschland, sondern auch vielen anderen EU-Staaten eine steigende Nachfrage registriert.
Litauens Metallbranche sticht hervor
Litauen beheimatet als einwohnerstärkstes baltisches Land die höchste Zahl von Herstellern von Metallerzeugnissen. Dass die litauische Branche größer ist als die estnische und lettische, wird auch bei den Exporten nach Deutschland deutlich: Im Jahr 2022 exportierte Litauen mit rund 143 Milliarden Euro mehr Metallerzeugnisse nach Deutschland als Estland und Lettland zusammen.
Auch in Litauen ist der Großteil der metallverarbeitenden Betriebe in der Auftragsfertigung tätig. Rund drei Viertel ihrer Produktion verkauft die Branche im Ausland. Wichtigste Absatzmärkte sind Schweden und Norwegen. Jeweils mehr als 11 Prozent der litauischen Exporte des Sektors gehen in die beiden skandinavischen Länder. Deutschland vervollständigt das Siegertreppchen mit 10,5 Prozent auf Platz drei.
Der Straßentransport per Lkw ist der wichtigste Transportweg für Lieferungen aus den baltischen Staaten nach Deutschland. Besonders Litauen verfügt über einen starken Logistiksektor. Je nach Waren- und Chargengröße kommt auch der Transport per Seeweg infrage. Das große Schieneninfrastrukturprojekt Rail Baltica wird den Warentransport per Zug erheblich vereinfachen. Die ursprünglich für 2026 geplante Fertigstellung verschiebt sich jedoch. |
Deutsches Interesse an Zulieferern aus dem Baltikum steigt
Das steigende Interesse deutscher Unternehmen an Metallerzeugnissen aus dem Baltikum ist dabei keine Ausnahme. Auch in anderen Branchen verzeichnen die Unternehmen in Estland, Lettland und Litauen eine steigende Nachfrage aus Deutschland. "Spätestens seit Corona ist das deutsche Interesse an Zulieferern aus den baltischen Staaten gestiegen", sagt Otto. Die drei Länder waren nach Einschätzung des AHK-Experten noch nicht auf dem Schirm aller deutschen Unternehmen. Das ändere sich jetzt.
"Viele Firmen, die uns kontaktiert haben, bezogen ihre Produkte bisher aus Asien. Nun wollen sie ihre Lieferketten verkürzen und sicherer machen. Vor allem für die Holzindustrie haben wir zahlreiche Anfragen bekommen. Aber auch die Metall- und Plastikbranche waren hoch im Kurs." Die hohe Inflation im Baltikum und die ökonomische Abkühlung in Europa habe die Entwicklung zum Jahresbeginn 2023 etwas gedämpft. "Wir erwarten, dass sich die Nachfrage zeitnah wieder stabilisieren wird. Wenn sich die Märkte beruhigt haben, die Inflation zurückgeht und die Unternehmen wieder mehr Planungssicherheit bekommen."
Bezeichnung | Anmerkung |
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Anlaufstelle für deutsche Unternehmen | |
Eesti Masinatööstuse Liit | Verband der estnischen Maschinenbauindustrie (EML; vertritt die Interessen der estnischen Maschinen-, Metall- und Elektroindustrie) |
Verband der Maschinenbau- und metallverarbeitenden Industrie Lettlands (MASOC) | |
Lietuvos inzinerines pramones asociacija | Litauischer Verband der Ingenieurindustrien (LINPRA; vertritt die Interessen der Unternehmen aus den Bereichen Metall, Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik und Elektronik sowie der Kunststoff- und Gummiverarbeitung) |