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Rechtsbericht EU Brexit

Kontrovers: Britischer Gesetzentwurf zum Nordirland-Protokoll

Am 13. Juni 2022 hat die britische Regierung einen Gesetzentwurf vorgestellt, der das Nordirland-Protokoll einseitig ändern soll. Wie kann die EU reagieren, falls der Entwurf Gesetz wird?

Von Karl Martin Fischer | Bonn

Der britische Entwurf hätte erhebliche Auswirkungen

Der lange angekündigte Gesetzentwurf heißt „Northern Ireland Protocol Bill“. Er enthält etliche Klauseln, die, träten sie in Kraft, die britische Handhabung des Nordirland-Protokolls deutlich verändern würden. So sagt Artikel 1 („Übersicht der wichtigsten Regelungen“) des Entwurfs zum Beispiel: „Dieses Gesetz (a) regelt, dass bestimmte Regelungen des Nordirland-Protokolls im Vereinigten Königreich keine Wirkung haben; (b) […]“ (Übersetzung durch Verfasser). Zu diesen Regelungen gehört zum Beispiel die zentrale Norm des Artikel 5 des Nordirland-Protokolls, der die Behandlung des Warenverkehrs zwischen Großbritannien und Nordirland regelt.

Weitere betroffene Themenbereiche sind die Produktstandards, Staatsbeihilfen und Steuern, insbesondere Mehrwert- und Verbrauchssteuern. Das Gesetz räumt der Exekutive erhebliche Befugnisse ein. Insofern fällt besonders Artikel 22 auf, wo unter anderem geregelt ist, dass britische Rechtsverordnungen nicht im Einklang mit dem Nordirland-Protokoll oder irgendeinem anderen Teil des Austrittsabkommens stehen müssen.

Welche Reaktionsmöglichkeiten gibt das Austrittsabkommen?

Streitbeilegung

Eingangs: Das Nordirland-Protokoll, um das es in diesem Disput geht, ist Teil des Austrittsabkommens, siehe ebendort Artikel 182. Somit gelten die dortigen Regeln. Eine sehr plausible Handlungsmöglichkeit der EU wäre daher die Eröffnung eines Streitbeilegungsverfahrens gemäß den Artikeln 167 ff. des Austrittsabkommens. Es würde gemäß Artikel 169 damit beginnen, dass der Gemeinsame Ausschuss mit der Frage befasst wird. Findet sich nach drei Monaten keine politische Lösung, können beide Parteien ein Schiedsverfahren einleiten.

Die Entscheidung des Schiedspanels ist bindend. Wird sie nicht umgesetzt, kommt Artikel 178 des Austrittsabkommens ins Spiel. Gemäß dieser Norm kann ein Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld gegen den Beschwerdegegner (hier wohl das Vereinigte Königreich (VK)) festgelegt werden. Wird nicht gezahlt, kann die beschwerdeführende Partei (hier wohl die EU) die Anwendung des Austrittsabkommens aussetzen (mit Ausnahme des Teils Zwei, der die Rechte der Bürgerinnen und Bürger schützt). Sie ist ebenfalls berechtigt, wenn angemessen, die Anwendung jedes anderen Abkommens zwischen der EU und dem VK auszusetzen. Hier kommt natürlich das Handels- und Kooperationsabkommen vom 24. Dezember 2021 in Betracht (siehe unten).

Vertragsverletzungsverfahren

Ebenfalls denkbar: Die Europäische Union (EU) kann ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einleiten. Zwar ist das VK als Nicht-Mitglied der EU nicht mehr an die Verträge gebunden. Aber wegen der ausdrücklichen Regelung des Artikel 12 Absatz 4 des Nordirland-Protokolls wäre diese Regelung dennoch für das VK einschlägig. So hat die EU schon in der Vergangenheit wegen der einseitigen Verlängerung von Übergangsfristen durch die britische Seite am 15. März 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das allerdings im September 2021 zunächst ruhend gestellt wurde, um laufende Verhandlungen nicht zu gefährden. Die EU hätte hier die Möglichkeit, dieses Verfahren wiederaufzunehmen oder ein neues Verfahren einzuleiten.

Andere Möglichkeiten

Weit weniger plausibel sind die Mittel, die der zu einer gewissen Berühmtheit gelangte Artikel 16 des Nordirland-Protokolls zur Verfügung stellt. Diese wurde oft – fälschlich – als eine Art Kündigungsmöglichkeit für das Protokoll dargestellt. In Wahrheit hat weder das Protokoll noch das restliche Austrittsabkommen eine solche Kündigungsklausel. Tatsächlich bietet Artikel 16 bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ein Verfahren, das – nach Konsultation und Verhandlungen – die vorübergehende Aussetzung konkreter Pflichten ermöglichen kann. Dabei muss stets das Prinzip der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. Kommt es zu solchen Maßnahmen, sieht Artikel 16 Absatz 2 vor, dass die andere Vertragspartei so genannte Ausgleichsmaßnahmen ergreifen kann. Allerdings hat die britische Seite bislang darauf verzichtet, das entsprechende Verfahren einzuleiten.

Denkbar wäre schließlich auch eine Klage eines betroffenen Unternehmens vor den örtlichen Gerichten. Denn schließlich hat das Austrittsabkommen, dessen Teil das Nordirland-Protokoll ist, unmittelbare Wirkung. Das heißt, es verleiht den Betroffenen unmittelbar subjektive Rechte. Einseitige Maßnahmen der britischen Seite könnten solche Rechte verletzen.

Eine Antwort aus dem Freihandelsabkommen?

Die EU wäre nicht auf die Vorschriften des Austrittsabkommens beschränkt. Wenn politisch gewollt, könnten die Handelsbeziehungen mit dem VK eingeschränkt werden.

Die schärfste Waffe wäre Artikel 779 des Handels- und Kooperationsabkommens. Diese Vorschrift ermöglicht eine Kündigung des gesamten Abkommens. Eine Begründung ist nicht erforderlich. Es gilt eine einjährige Kündigungsfrist, seitens der EU dürfte wohl Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten erforderlich sein. Alternativ gibt es auch noch Artikel 521, in dem es speziell um die Beendigung des zweiten Teils (Handel etc.; Artikel 15 ff) geht. Die Kündigungsfrist ist hier mit neun Monaten etwas kürzer.  

Außerdem gibt es noch speziellere Kündigungsmöglichkeiten, nämlich für die Titel Energie (in Artikel 331), Luftverkehr (Artikel 441), Flugsicherheit (Artikel 458), Beförderung von Gütern auf der Straße (Artikel 472) und Fischerei (Artikel 509), alle mit neun Monaten Frist.

Für viele Maßnahmen wäre originär der Rat zuständig. Allerdings gibt es einen Verordnungsentwurf, der für viele Einzelmaßnahmen (siehe dort insbesondere Artikel 1 Absatz 2) der Kommission die Kompetenz überträgt. So können eventuell erforderliche Maßnahmen zeitnäher eingeleitet werden.  

Zum Thema:

Text der Northern Ireland Protocoll Bill

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