Rechtsbericht | Indien | Arbeitsrecht
Arbeitsrecht
Regelungen des indischen Arbeitsrechts sind in diversen Gesetzen zu finden. Derzeit erfolgt eine Reform des Arbeitsrechts: Vier neue Gesetzbücher wurden bereits verabschiedet.
26.04.2024
Von Julia Merle | Bonn
Vergütung: Regelungen durch Individualverträge nach Maßgabe gesetzlicher Mindestlohnvorgaben; in der Regel bestehend aus Grundgehalt und Zulagen. |
Mindestlohn: Kein genereller nationaler Mindestlohn; unterschiedlich unter anderem je nach Region, Branche, Art der Tätigkeit, Ausbildungsstand; künftig Code on Wages, 2019 als einheitliches Gesetz (noch nicht in Kraft). |
Arbeitsstunden pro Woche: Sec. 51, 54 Factories Act, verschiedene Shops and Establishments Acts: 48 Stunden, nicht mehr als neun Stunden pro Tag; Sec. 56 Factories Act: in Fabriken maximal 10,5 Stunden pro Tag; Büroangestellte in der Regel 40 bis 45 Stunden. |
Regelarbeitstage pro Woche: Üblicherweise sechs Arbeitstage bei Fabrikarbeitskräften und fünf Tage bei Büroangestellten. |
Zulässige Überstunden: Sec. 64 Factories Act: Regelarbeitszeit plus Überstunden maximal 60 Stunden pro Woche; maximal 50 Überstunden in einem Quartal. |
Gesetzliche Feiertage: Landesweit uneinheitlich; verschiedene nationale, regionale und religiöse Feiertage. |
Bezahlte Urlaubstage: Ein Tag pro gearbeitete 20 Tage; pro 15 Tage für Minderjährige (Sec. 79 Factories Act). |
Sonderzahlungen pro Jahr in Monatslöhnen (13. und/oder 14. Gehalt): Unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Payment of Bonus Act, 1965. |
Tage mit Lohnfortzahlung bei Krankheit: Keine eindeutige Regelung zur Pflicht des Arbeitgebers; für bestimmte Arbeitnehmer nach Employees' State Insurance Act; Industrial Standing Orders: sechs bis zwölf Tage im Kalenderjahr. |
Probezeit: Freie Vereinbarung möglich, bis zu sechs Monate üblich. |
Rechtsgrundlagen
Die Bestimmungen zu Arbeitsverhältnissen sind sehr differenziert und derzeit noch in einer Vielzahl von Gesetzen enthalten. Es bestehen Regelungen auf nationaler und lokaler Ebene mit einer Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern ("workmen"), die uneinheitlich im jeweiligen Gesetz definiert werden. Besondere Relevanz haben der Minimum Wages Act 1948 (MWA), Contract Labour (Regulation and Abolition) Act 1970 (CLA), Workmen's Compensation Act 1923, Payment of Wages Act 1936, Payment of Gratuity Act 1972, Payment of Bonus Act 1965 sowie der Industrial Disputes Act 1947 (IDA).
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Spezialvorschriften für bestimmte Branchen wie den Factories Act 1948 (FA), Sales Promotion Employees (Conditions of Service) Act 1976, Plantations Labour Act 1951 (PLA) oder den Beedi and Cigar Workers (Conditions of Employment) Act 1996 sowie den jeweiligen Shops and Establishment Act (SEA) der Bundesstaaten. Tarifvertragliche Bestimmungen haben grundsätzlich Vorrang vor den gesetzlichen Vorgaben.
Das Arbeitsrecht befindet sich in einem Reformprozess. Das im August 2019 verabschiedete Gesetz über Löhne (Code on Wages, 2019) wird Anwendung auf alle Arbeitnehmer, unabhängig vom Monatsgehalt, finden. Der Mindestlohnanspruch soll für alle Arbeitnehmer jeglicher Branchen gelten (Sec. 5 des Gesetzes). Die Zentralregierung kann künftig einen Mindestlohn (floor wage) je nach Region festlegen.
Im September 2020 wurden der Code on Social Security, 2020 (Sozialversicherung), der Occupational Safety, Health and Working Conditions Code, 2020 (Arbeitsschutz) und der Industrial Relations Code, 2020 (Arbeitsbeziehungen) erlassen. Alle eingangs aufgeführten Einzelgesetze auf nationaler Ebene werden in diesen vier neuen Kodifikationen zusammengeführt.
Insgesamt sollen 29 Gesetze aufgehoben und die große Zahl der Arbeitsgesetze reduziert werden. Wann die Codes in Kraft treten, ist noch nicht bekannt. Die Bundesstaaten erstellen Implementierungsregelungen.
Vertragsabschluss
Grundsätzlich herrscht Vertragsfreiheit. Angesichts einer hohen gesetzlichen Regelungsdichte bleibt der Schutz des Arbeiternehmers auch ohne Arbeitsvertrag gewährleistet, dieser richtet sich vorrangig an geringfügig Qualifizierte wie Tagelöhner. Entsprechend ist der Abschluss schriftlicher Arbeitsverträge nicht vorgeschrieben und lediglich im Rahmen von anspruchsvolleren Tätigkeiten üblich. Der Abschluss eines schriftlichen Arbeitsvertrages ist aus Nachweisgründen dennoch sinnvoll.
Arbeitsverhältnisse können befristet oder unbefristet eingegangen werden. Eine Höchstdauer der Befristung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben.
Der Arbeitgeber ist bei der Höhe der Löhne an die durch den MWA vorgegebenen Mindestlöhne gebunden. Diese variieren insbesondere je nach Bundesstaat, Branche, Altersgruppe sowie Tätigkeit und werden regelmäßig angepasst. In der Regel kommen (teilweise regional) unterschiedliche Zuwendungen hinzu.
Rechte und Pflichten der Vertragsparteien
Die wöchentliche Regelarbeitszeit beträgt 48 Stunden (Sec. 51 FA). Überstunden sind in beschränktem Umfang zulässig und nach Sec. 59 FA mit dem Doppelten des normalerweise gezahlten Stundenlohns zu vergüten. Entsprechende Vorschriften finden sich in anderen Spezialgesetzen (wie Mines Act, PLA). Frauen dürfen grundsätzlich nachts zu bestimmten Zeiten nicht arbeiten.
Bezahlter Erholungsurlaub steht einem Arbeiter nach Sec. 79 FA erst dann zu, wenn er im vorangegangenen Kalenderjahr mindestens 240 (in Bergwerken 190) Tage lang gearbeitet hat. Für erwachsene Arbeiter entsteht alle 20 geleistete Arbeitstage ein Anspruch auf einen Urlaubstag, bei Minderjährigen alle 15 Arbeitstage.
Angestellte erhalten nach dem SEA des jeweiligen Bundesstaates meist zusätzlich zum regulären Urlaub eine festgelegte Anzahl an "Casual Leave"-Tagen. Das ist bezahlte Abwesenheit an einzelnen Tagen, die für Behördengänge, familiäre Angelegenheiten etc. genutzt werden kann.
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall legt ein Unternehmen unter Berücksichtigung des regionalen SEA oder sonstiger anzuwendender Rechtsvorschriften fest.
Wegen der kulturellen und religiösen Vielfalt besteht keine landesweit einheitliche Liste der gesetzlichen Feiertage.
Vertragsbeendigung
Die ordentliche Kündigung unterliegt der Schriftform und hat eine Begründung zu enthalten. Kündigungen können insbesondere verhaltens- oder betriebsbedingt erfolgen. Die Kündigungsfrist beträgt einen Monat (Sec. 25F IDA).
Die Höhe des Abfindungsanspruchs des Arbeitnehmers (Sec. 25C IDA) hängt von Betriebszugehörigkeit und Vergütungsklasse ab: Pro vollendetem Jahr Betriebszugehörigkeit erwächst ihm ein Abfindungsanspruch in Höhe von 15 Tagesgehältern. Nachvertragliche Wettbewerbsverbote sind in der Regel unwirksam und im Falle einer Kündigung nicht durchsetzbar.
Der Kündigungsschutz greift nach Sec. 25A und 25F IDA nur, wenn der Arbeitnehmer eine ununterbrochene Betriebszugehörigkeit von mindestens einem Jahr vorweisen kann und die Belegschaft die Anzahl von 50 Mitarbeitenden nicht unterschreitet. Arbeitnehmer in Führungspositionen können sich nicht auf den Kündigungsschutz nach dem IDA berufen.
Unternehmen, die in den vergangenen zwölf Monaten nicht weniger als 100 Angestellte beschäftigten, bedürfen zudem nach Sec. 25M (in Verbindung mit Sec. 25K) IDA für eine betriebsbedingte Kündigung grundsätzlich einer behördlichen Genehmigung; die gesetzliche Kündigungsfrist beträgt dann drei Monate (Sec. 25N IDA).
Abfindungszahlungen sind gesetzlich festgelegt. Im Rahmen des CLA ist darauf zu achten, dass eine Arbeitskraft, die eine Arbeitszeit von 120 Tagen im Jahr bei einer Firma absolviert, wie eine fest angestellte Kraft behandelt wird.
Arbeitnehmer können die Gewerkschaften einschalten. Für Streitigkeiten zur Kündigung sind bei "workmen" insbesondere die Arbeitsgerichte und eventuell weitere Instanzen zuständig.
Die außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund oder einvernehmliche Beendigung durch einen Aufhebungsvertrag sind jederzeit möglich.
Rechtspraxis
Unternehmen sollten versuchen, Rechtsstreitigkeiten mit Angestellten zu vermeiden. Obwohl die Arbeitsgesetzgebung eindeutig ist, können gerichtliche Auseinandersetzungen langwierig sein. Verhandlungszeiten von Jahren oder gar Jahrzehnten sind nicht selten, auch für vermeintliche Bagatellfälle. Manche Akteure versuchen aus taktischen Gründen, die Verfahren unnötig in die Länge zu ziehen, in der Hoffnung, dass die Gegenseite aufgibt.
Daher sind Verträge in Indien immens wichtig. Unternehmen sollten darauf achten, dass diese möglichst klar und umfassend sind sowie keinen Spielraum für Interpretationen lassen. Selbst nichtig erscheinende Details sollten schriftlich festgelegt werden. Das hilft dabei, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen.