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Markttrends
Mit staatlichem Wohlwollen im Rücken kündigen Hersteller chemischer Grundstoffe Dekarbonisierungsprojekte an. Die Wasserstoffwirtschaft bietet große Kooperationspotenziale.
12.03.2024
Von Heiko Steinacher | Toronto
Von Anfang 2021 bis Mitte 2022 haben Unternehmen der chemischen Industrie in Kanada gut 20 Investitionsvorhaben in kohlenstoffarme Technologien angekündigt. Nach Verabschiedung des US-Klimapakets IRA (Inflation Reduction Act) dürfte indes so mancher Anbieter eine Produktionsverlagerung in die USA erwogen haben.
Dekarbonisierung schweißt Chemie und Anlagenbau stärker zusammen
Eines dieser Projekte betrifft den Bau des ersten emissionsfreien Ethylen- und Derivatekomplexes der Welt: Der US-Chemiekonzern Dow will ihn zusammen mit dem US-Anlagenbauer Fluor in Fort Saskatchewan, Alberta, hochziehen und damit ein Fünftel seiner weltweiten Ethylenkapazität dekarbonisieren. Die Emissionen der Steamcracker werden dabei in Wasserstoff umgewandelt, der als sauberer Brennstoff im Produktionsprozess eingesetzt wird. Entstehendes CO2 wird vor Ort aufgefangen, weitertransportiert und gespeichert.
trägt die Chemieindustrie zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) Kanadas bei.
Auch weitere Produzenten chemischer Grundstoffe auf Erdöl- und Erdgasbasis haben bereits größere Dekarbonisierungsprojekte angekündigt: So will Shell zusammen mit Mitsubishi bei Edmonton, Alberta, kohlenstoffarmen Wasserstoff erzeugen und das entstehende CO2 mittels CCUS-Technik (Abscheidung, Verwendung und Speicherung von CO2) speichern und unterirdisch lagern. Und VCR – ein Konsortium aus Shell, Suncor und Proman – plant in Varennes, Québec, eine Bioraffinerie, die mittels grünem Wasserstoff und Sauerstoff nicht recycelbare Abfälle in Biokraftstoffe und Kreislaufchemikalien umwandelt.
Beflügelt werden diese Projekte auch durch geplante Steuergutschriften für Investitionen in saubere Energietechnologien. Sie fördern eine kohlenstoffarme Energieerzeugung – einschließlich Kernenergie – sowie die Herstellung und Nutzung von Wasserstoff. Dabei gilt: Je sauberer der Wasserstoff, desto höher die Förderung. Wichtig für Kanadas Erdgasindustrie: Auch Ausrüstungen, die für die Produktion von Wasserstoff aus Erdgas benötigt werden, sind förderfähig, wenn die dabei anfallenden CO2-Emissionen mithilfe von CCUS-Technologien reduziert werden.
Deutschland schielt auf grünen Wasserstoff aus Kanada
Daraus ergeben sich Chancen für die deutsch-kanadischen Wirtschaftsbeziehungen. Beide Länder haben bereits 2021 eine Energiepartnerschaft unterzeichnet. Im August 2022 folgte ein Wasserstoffabkommen: Es regelt, dass grüner Wasserstoff von den Atlantikregionen Neufundland und Labrador sowie Nova Scotia und New Brunswick per Schiff nach Deutschland kommt – in Form von Ammoniak. Uniper und E.ON wollen den grünen Energieträger vom kanadischen Anlagenentwickler EverWind abnehmen, der neben einer Handvoll weiterer Unternehmen solche Projekte im äußersten Osten Kanadas vorantreibt.
Kanada muss mehr Kunststoffe recyceln
Auch strengere Anforderungen an das Kunststoffrecycling zwingen zum Handeln. Kanada recycelt nur etwa 8 bis 9 Prozent seiner rund 3 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle pro Jahr. Der Rest landet überwiegend auf Mülldeponien. Es besteht dringender Handlungsbedarf, zumal sich der während der Coronakrise gestiegene Kunststoffkonsum auf einem höheren Niveau einpendelt als vor der Pandemie. Veränderte Konsumgewohnheiten wie mehr Onlineshopping und Essenslieferdienste tragen zu einem erhöhten Verpackungsbedarf bei.
Der bereits beschlossene Produktionsstopp für bestimmte Einwegplastikprodukte wie Tüten, Besteck und Strohhalme sei nur ein erster Schritt, betont die Regierung. Kaffee- und Schnellimbissketten wie Starbucks und Tim Hortons haben bereits einige Kunststoffprodukte aus ihrem Sortiment verbannt und durch Artikel aus recycelten Papierfasern ersetzt. Zudem müssen Kunststoffverpackungen in Kanada bis 2030 zu mindestens 50 Prozent aus recyceltem Material bestehen.
Neue Investitionsprojekte stehen immer mehr im Zeichen der Nachhaltigkeit. So nutzt die neue Polypropylen (PP)-Anlage von Inter Pipeline aus Edmonton, Alberta, eine Dehydrierungstechnologie, die darauf ausgelegt ist, recycelbares PP zu erzeugen. Im Sommer 2023 hat Nova Chemical mit dem britischen Technologielieferanten Plastic Energy eine Machbarkeitsstudie für eine Anlage für chemisches Recycling vereinbart: Mittels Pyrolyse in Öl zurückverwandelter Kunststoff soll dabei dazu dienen, aus Kunststoffabfällen PE in Neuwarequalität herzustellen. Auch weitere kanadische Firmen, darunter GreenMantra, Loop Industries, Pyrowave und Renewlogy, haben fortschrittliche chemische Recyclingmethoden zur Verarbeitung komplexer Kunststoffe entwickelt.
Rohstoffreichtum führt zum Aufbau regionaler Batteriewertschöpfungsketten
Viel Bewegung ist auch im Bereich Batteriechemikalien. So baut der belgische Konzern Umicore ein Werk für Batteriematerialien in der Provinz Ontario. In der Nachbarprovinz Québec errichten BASF und General Motors (GM) mit seinem südkoreanischen Partner Posco Chemical jeweils ein weiteres. Volkswagen (VW) baut eine Gigafabrik in Ontario – seine erste außerhalb Europas. Auch dabei zeigt sich der Einfluss des IRA: Die neuen in Kanada hergestellten Batteriezellen sind vor allem für Elektroautos bestimmt, die in den USA gefertigt werden – und dort von den Fördermitteln im Rahmen des riesigen Fiskalpakets profitieren.
Akteur/Projekt | Investitionssumme (in Mio. US$) *) | Projektstand | Anmerkungen |
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Dow Chemicals / neue Produktionsstätte | 6.100 | Planungsphase / Fertigstellung 2029 | Integrierter Standort für Ethylen-Cracker und -Derivate mit Netto-Null-Kohlenstoffemissionen |
Siltech / neue Produktionsstätte | 70 | frühe Bauphase / Fertigstellung 2024 | Anlage für spezielle Silikonpolymere |
IKO Industries / neue Produktionsstätte | 31 | Planungsphase / Fertigstellung 2025 | Polystyrol-Anlage |
Starlim North America / Erweiterung | 7 | Planungsphase | Anlage für Flüssigsilikonkautschuk (LSR) |
BASF / Neue Anlage in Québec | Noch nicht bekannt | Planungsphase | Fabrik für Kathodenaktivmaterial (PCAM) |
Auch die Bauchemie muss ihren CO2-Fußabdruck verringern
Im Bausektor sorgen der Industrie- und Energiebereich für eine rege Nachfrage nach Bauchemie – im Gegensatz zum Wohnungsbau. Denn während Gigafabriken, Rechenzentren und Bauprojekte für die Spitzenforschung boomen, hat die restriktive Geldpolitik den privaten Wohnungsbau weitgehend ausgebremst. Zumindest 2024 dürfte sich Kanadas Wohnungsbau auch höchstens wieder leicht beleben. Da die Bauvorschriften sowohl national als auch auf Provinz- und Kommunalebene in den letzten Jahren wiederholt verschärft wurden, werden immer mehr nachhaltige und kreislaufeffiziente Baustoffe benötigt.