Markets International 6/24 I Saudi-Arabien I Architektur
Vision oder Wahnsinn?
Spektakuläre Großprojekte sollen das Königreich Saudi-Arabien zukunftsfähig machen. Allerdings ist die Realisierbarkeit und Sinnhaftigkeit vieler Vorhaben zweifelhaft.
08.01.2025
Von Robert Espey | Riad
Auf der Arabischen Halbinsel ist nichts so konstant wie der Wandel. Jeden Tag entdeckt man eine neue Baustelle, eine neue Aneinanderreihung von Kränen, ob in der Ferne oder mitten in der Stadt. Der Weg ins Büro, den man gestern noch problemlos fahren konnte, ist heute vielleicht schon gesperrt, da eine der vielen Baustellen die Straße blockiert. Die Bauvorhaben sind Ausdruck der Bemühungen, die stark vom Ölsektor geprägte Wirtschaft auf der Arabischen Halbinsel breiter aufzustellen. In Saudi-Arabien trägt das aktuelle Diversifizierungskonzept den Namen Vision 2030. Die treibende Kraft hinter der im Frühjahr 2016 vorgestellten Strategie ist der 39-jährige Kronprinz und De-facto-Herrscher Mohammed bin Salman bin Abdulaziz Al Saud. Er ist zudem Premierminister und Vorsitzender des Rats für Wirtschaft und Entwicklung. Ferner kontrolliert er den großen staatlichen Investmentfonds Public Investment Fund.
Markets International Ausgabe 6/24
Markets International 05/24 | © GTAIDieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Markets International, Ausgabe 6/2024. Erfahren Sie, welche weiteren Beiträge die Ausgabe für Sie bereit hält.
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Ein zentrales Element der Vision 2030 bilden die zum Teil gigantischen staatlichen Bauvorhaben. Der Gesamtwert der in Saudi-Arabien geplanten Mega- und Gigaprojekte ist kaum präzise zu bestimmen. Schätzungen zufolge könnte er mehr als zwei Billionen US-Dollar betragen. Allerdings dürfte nur ein Bruchteil der Projekte bis 2030 fertiggestellt sein. Der Zeitrahmen vieler Vorhaben reicht schon jetzt bis ins Jahr 2050. Die Großprojekte sind vor allem in den Bereichen Städte- und Wohnungsbau, Infrastruktur, Tourismus sowie Freizeit, Unterhaltung und Sport angesiedelt. Ein bedeutendes Vorhaben ist das international stark beachtete Megaprojekt Neom, eine Entwicklungszone, die flächenmäßig größer ist als das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und in der Provinz Tabuk angesiedelt ist. Ein zentraler Aspekt dieses Unterfangens ist die gezielte Stärkung des industriellen Sektors. Allerdings bestehen in vielerlei Hinsicht erhebliche Zweifel daran, ob die Großprojekte in der gegenwärtigen Form realisierbar sind. Neben der Wirtschaftlichkeit beziehungsweise Finanzierbarkeit sind unter anderem Fragen der technischen Machbarkeit ungeklärt. Eine öffentliche Debatte über die Sinnhaftigkeit findet in Saudi-Arabien jedoch nicht statt. Der Kronprinz kontrolliert die Narrative über die von ihm initiierten Großprojekte. Ein wesentliches Ziel hat Mohammed bin Salman bereits erreicht: Jeder spricht über das Königreich und seine extravaganten Großprojekte.
Die Auftragslage wirft Fragen auf
Nach Berechnungen der Onlineplattform Meed Projects wurden für rund 20 staatliche Großprojekte im Zeitraum von 2018 bis August 2024 Aufträge im Wert von 92 Milliarden US-Dollar vergeben. Der überwiegende Teil dieser Aufträge stammt aus Projekten, die der Public Investment Fund finanziert. Um im Zeitplan zu bleiben, müsste in den nächsten fünf Jahren ein hoher dreistelliger Milliardenbetrag für weitere Aufträge folgen. Aber noch in diesem Jahr könnte es bei der Auftragsneuvergabe zu einer Schrumpfung kommen. Nach 30 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr wurden in den ersten acht Monaten 2024 Verträge für weniger als 18 Milliarden US-Dollar unterschrieben.
Durch die staatlichen Großprojekte droht eine Überhitzung der Baukonjunktur. Das lässt zumindest der Blick auf die Zahlen vermuten: 2015 erreichte die reale, preisbereinigte Wertschöpfung der saudi-arabischen Bauindustrie einen Höhepunkt, gefolgt von einer dreijährigen Rezession. Laut offizieller Statistik lag die Wertschöpfung 2018 um 15,5 Prozent unter dem Niveau von 2015. Seit 2019 zeigt sich wieder ein Aufwärtstrend. Die Wertschöpfung der Bauwirtschaft erhöhte sich 2023 um 4,3 Prozent und lag damit um 2,2 über dem bisherigen Spitzenwert von 2015. Für das erste Halbjahr 2024 wird ein Zuwachs von vier Prozent gemeldet. Solch ein schnelles Wachstum nach einer Phase der Stagnation deutet darauf hin, dass die Kapazitäten der Bauwirtschaft überbeansprucht werden, was zu Engpässen, Qualitätsproblemen und einem Anstieg der Arbeitskosten und Materialpreise führen kann.
Nach Berichten in ausländischen Medien über den geringen Baufortschritt beim futuristischen Gigastadtentwicklungsprojekt The Line erklärte die Regierung, eine Überhitzung der Wirtschaft müsse vermieden werden. Die Projekte würden unter Berücksichtigung einer optimalen wirtschaftlichen Wirkung umgesetzt. An der grundsätzlichen Projektplanung werde es aber keine Änderungen geben. Beobachter werten dieses Statement als Hinweis, dass viele Projekte zeitlich gestreckt werden könnten.
Gleichzeitig ist bei einigen Vorhaben mit einer Projektbeschleunigung zu rechnen. Vor allem Bauvorhaben, die im Zusammenhang mit internationalen Großveranstaltungen termingerecht fertig werden müssen, haben Priorität. Saudi-Arabien ist 2029 Veranstalter der zehnten Winter-Asienspiele. In Riad findet von Oktober 2030 bis März 2031 die Weltausstellung Expo 2030 statt. Im Jahr 2034 richtet das Königreich die 25. Fußballweltmeisterschaft der Männer aus.
Kurz vorgestellt: Gigaprojekte
Neom
Das wohl aufsehenerregendste Gigaprojekt ist Neom, das in einer bislang dünn besiedelten Entwicklungszone im Nordwesten des Landes realisiert wird. Die Bauarbeiten starteten 2017. Zu den zentralen Vorhaben zählen die futuristische Stadt The Line, das Wintersportgebiet Trojena, die Industriestadt Oxagon und das Tourismusprojekt Sindalah, eine Insel mit Luxusresorts und Yachthafen. Insbesondere The Line hat es im Ausland immer wieder in die Schlagzeilen geschafft. Das Konzept eines aus etwa 140 Modulen bestehenden, zusammenhängenden Baukörpers mit 170 Kilometer Länge, 500 Meter Höhe und 200 Meter Breite steht in der Kritik.
Nach Fertigstellung soll The Line neun Millionen Menschen beherbergen. Bis 2030 war die Ansiedelung von 1,5 Millionen Menschen geplant. Mittlerweile wird nur noch von maximal 300.000 Einwohnern in drei Modulen mit einer Gesamtlänge von 2,4 Kilometern ausgegangen. Die Module bilden das westliche Ende von The Line an der Meerenge von Tiran (Zugang zum Golf von Akaba) und tragen den Namen Hidden Marina.
Qiddiya
Ein im Königreich noch recht neuer Sektor ist der Entertainmentbereich. Mit dem Aufbau einer Vergnügungs- und Freizeitindustrie will der Kronprinz die junge einheimische Bevölkerung für sich gewinnen. Der Bevölkerungszensus 2022 weist den Anteil der saudi-arabischen Bevölkerung unter 30 Jahren mit rund 63 Prozent aus. Mehr als 24 Freizeitparks und über 420 Unterhaltungszentren sollen bis 2030 entstehen.
Das wichtigste Großprojekt in diesem Segment ist Qiddiya, die erste Entertainment City in Saudi-Arabien. Nach Fertigstellung soll Qiddiya 25 verschiedene Distrikte umfassen, die Unterhaltung, Sport und Kultur, aber auch Mixed-Use Areas, Wohngebiete und Natur bieten. Ursprünglich sollte Qiddiya bereits 2023 eröffnet werden. Es kommt aber immer wieder zu Verzögerungen. Aktuell ist eine Eröffnung der ersten Teilbereiche für 2025 angekündigt.
Roshn
Roshn ist das größte Immobilienentwicklungsunternehmen in Saudi-Arabien. Der Bauträger unterstützt das Ziel der Vision 2030, die Wohneigentumsquote in Saudi-Arabien bis zum Ende des Jahrzehnts auf 70 Prozent zu erhöhen. Das Unternehmen plant, bis 2030 mehr als 400.000 Wohnungen, 1.000 Kindergärten und Schulen sowie über 700 Moscheen zu errichten. Eigenen Angaben zufolge baut Roshn aktuell 50.000 Wohnungen. Kürzlich hat der Projektentwickler einen Bauauftrag im Wert von 600 Millionen US-Dollar für das Aldanah-Projekt in der Ostprovinz Saudi-Arabiens an das lokale Bauunternehmen Building Construction Company vergeben. Der Auftrag umfasst die Entwicklung und Planung sowie die Infrastrukturarbeiten für 1.962 Wohneinheiten in der Gemeinde Aldanah in Dharan. Das Projekt soll bis 2028 fertiggestellt sein.
Die Großprojekte bieten Perspektiven
Unabhängig von der Sinnhaftigkeit der Projekte, dem tatsächlichen Umsetzungstempo und den Realisierungschancen bieten die Vorhaben ausländischen Unternehmen derzeit interessante Geschäftsperspektiven. Neben dem Public Investment Fund gehören zu den wichtigen Projektbetreibern die Royal Commission for Riyadh City, die Royal Commission for Al-Ula oder das Ministerium für Sport.
Der Public Investment Fund ist unter anderem für die Gigaprojekte Neom, Qiddiya, Seven, Roshn, Diriyah, Red Sea Global, New Murabba, Jeddah Central, Rua Al Madinah, Saudi Downtown Company sowie den Bau eines neuen Flughafens in Riad verantwortlich. Für die einzelnen Großprojekte hat der Staatsfonds eigene Tochtergesellschaften gegründet.
Die Bauvorhaben gehen oftmals über Grenzen hinaus – sei es architektonisch, wie bei dem Projekt The Line, einem 170 Kilometer langen, 500 Meter hohen und 200 Meter breiten Gebäudekomplex, oder technologisch, wie bei Trojena, einem geplanten Wintersportgebiet in den schneefreien Bergen am Roten Meer. Um die damit einhergehenden Herausforderungen zu bewältigen, benötigen die Projektverantwortlichen vermehrt Lösungen, für die deutsche Unternehmen oftmals die passenden Produkte oder Dienstleistungen anbieten – seien es speziell gegossene Stahldächer oder riesige, gebogene Glasscheiben. Deutsche Unternehmen sind als „Problemlöser“ an Bauvorhaben beteiligt, darunter Architekturfirmen wie Lava oder AS+P, Ingenieurbüros wie Dornier und die Dorsch Gruppe oder Geze, ein Systemanbieter für Tür-, Fenster- und Sicherheitstechnik.
Kurz vorgestellt: Weitere Gigaprojekte
Oxagon
Die als Teil von Neom im Aufbau befindliche Industrie- und Logistikzone Oxagon soll aus mehreren Clustern bestehen. Im südlichen Cluster entsteht eine Anlage zur Produktion von grünem Ammoniak mit einer Jahreskapazität von 1,2 Millionen Tonnen. Die Elektrolysetechnik mit einer Kapazität von 2.000 Megawatt kommt von ThyssenKrupp. Ein vier Milliarden US-Dollar teurer Wind- und Solarkomplex wird den Strom liefern. Der in Oxagon geplante Containerhafen soll über eine Kapazität von 1,5 Millionen Zwanzig-Fuß-Containern verfügen.
In den letzten Monaten haben die Projektentwickler mehrere wichtige Vereinbarungen unterzeichnet. Beispielsweise ging im Juli ein Auftrag im Wert von einer Milliarde US-Dollar zum Bau des Terminals 1 im Hafen von Oxagon an ein Konsortium bestehend aus der ägyptischen Hassan Allam Holding, dem saudi-arabischen Unternehmen El-Seif Engineering Contracting und der China Harbour Engineering Company. Erste Bauarbeiten haben bereits begonnen.
Diriyah
DIRIYAH ist der historische Stammsitz der Al-Saud-Dynastie und beherbergt das Unesco-Weltkulturerbe At-Turaif. | © Adobe Stock/pop_ginoAm Rande der Hauptstadt Riad entsteht ein Gigaprojekt, das jährlich Millionen Besucher in ein 14 Quadratkilometer großes Gebiet mit historischen und kulturellen Attraktionen locken soll. Diriyah ist der historische Stammsitz der Al-Saud-Dynastie und beherbergt das Unesco-Weltkulturerbe At-Turaif (siehe Bild links), die Stätte des ersten saudi-arabischen Staates, der 1727 gegründet wurde. Unter anderem sind Museen, Kunstgalerien, Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten geplant. Bis Mai 2024 haben die Bauträger Aufträge im Wert von mehr als 14,1 Milliarden US-Dollar vergeben. Weitere acht Milliarden sollen bis Ende 2024 folgen, und für 2025 sind weitere Verträge über 12 bis 14 Milliarden US-Dollar geplant. Im Sommer 2024 hat die Diriyah Company einen Auftrag im Wert von etwa zwei Milliarden US-Dollar an ein Joint Venture von El-Seif Engineering Contracting und China State Construction Engineering Corporation zum Bau des North Cultural District vergeben. Der Auftrag, der bisher größte im Rahmen des Gigaprojekts, umfasst mehrere Objekte, darunter Hotels, die Bibliothek der King Salman Foundation, die King Salman University und das House of Saud Museum.
Partnerschaften vor Ort aufbauen
Der saudi-arabische Markt birgt jedoch einige Eigenheiten. Wenn Unternehmen in den Markt eintreten möchten, empfiehlt es sich, gute Partnerschaften vor Ort aufzubauen. Der lange Atem, den Unternehmen mitbringen müssen, um im Markt aktiv und erfolgreich sein zu können, ist nicht zu unterschätzen. Gerade bei Großprojekten des Public Investment Fund ist zu berücksichtigen, dass die Umsetzung von Projekten erheblich länger dauern kann als geplant. Ausländische Unternehmen müssen sowohl finanziell als auch personell in der Lage sein, sich für einen längeren Zeitraum auf dem Markt zu engagieren und Mitarbeiter vor Ort zu beschäftigen.
Deshalb bekommen primär große, kapitalkräftige Architekturbüros die Zuschläge. Aber auch kleinere Büros können zum Zuge kommen. Um die Chancen zu erhöhen, empfehlen namhafte deutsche Architektur- und Ingenieurfirmen, sich mit anderen Büros zusammenzuschließen. Die westlichen Unternehmen, die am stärksten auf dem saudi-arabischen Markt für Architekturdienstleistungen vertreten sind, kommen aus den USA, Großbritannien und Italien. Asiatische Unternehmen, allen voran chinesische Unternehmen, sind die Spitzenreiter im Bausektor. Dies liegt vor allem an einem intensiven Preiskampf, der für europäische Unternehmen auf Grund höherer Personal- und Materialkosten nur schwer zu gewinnen ist.
Trotz der bestehenden Herausforderungen hat der saudi-arabische Markt für deutsche Unternehmen Potenzial. Mit einer durchdachten Strategie, stabilen Partnerschaften vor Ort und einem hohen Maß an Flexibilität können deutsche Firmen an den ambitionierten Bauvorhaben teilhaben – und mit deutscher Ingenieurskunst zur Realisierung der Gigaprojekte beitragen.
-> Interview mit Alexander Rieck vom Architekturbüro Laboratory for Visionary Architecture (Lava)